Palastorganist Cameron Carpenter begleitet »Nosferatu« von Friedrich Wilhelm Murnau
Nur 25 Stunden früher, und die Aufführung von Friedrich Wilhelm Murnaus Film »Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens« im Dresdner Kulturpalast hätte genau zum Vollmondzeitpunkt stattgefunden. Aber auch am Freitagabend leuchtete der Mond noch groß und hell am Himmel.
Die originale Musik zu »Nosferatu« von Hans Erdmann ging leider verloren, zumindest die Partitur. Überlebt haben aber Auszüge in einer Fantastisch-romantischen Suite. Ihre Kopien tragen Zwischentitel, wie sie für im Kino gespielte Musik üblich waren: von »idyllisch« oder »lyrisch« reichen die Charakterisierungen bis »stürmisch« und »grotesk«, natürlich darf »spukhaft« bei einer Dracula-Verfilmung nicht fehlen. Der Musikwissenschaftler Berndt Heller hat daher vermutet, daß auch die Suite (deren Spieldauer weniger als die Hälfte des Films beträgt) dafür genutzt wurde, Aufführungen von »Nosferatu« zu begleiten.

Die Dresdner Philharmonie – wiewohl erfahren darin, Musik zu alten und neuen Filme zu spielen – verzichtete diesmal darauf, den Part zu übernehmen und spielte nur den Gastgeber. Die Musik überließ sie dem aktuellen Palastorganisten Carmen Carpenter. Der, sonst in vielem von dem abweichend, was Kollegen (vor allem jene im Kirchendienst) auszeichnet, stellte sich ganz in den Dienst der Sache, also des Films. Während seinen Konzerten, vor allem mit der eigenen digitalen Touring-Orgel, immer etwas Spektakuläres anhaftet, richtete sich Carpenter gestern ganz nach der Handlung oder Stimmung des Films. Musikalisch verspielte Szenen wechselten mit stimmungsvollen oder unheimlichen, manchmal, wenn im Film zunächst zwei Personen zu sehen waren, deren Dialog erst mit der folgenden Schrifttafel nachgereicht wurde, wählte der Palastorganist eine geradezu sprechende Musik. In dramaturgisch aufgeladenen Szenen konnte sie aber grell werden – für den Auftritt des Vampyrs bzw. dessen unheimliches Vordringen, das schattenhafte Schleichen Nosferatus, der sich seinen Opfern näherte, wählte Cameron Carpenter ein Walkürenmotiv.
Friedrich Wilhelm Murnaus Film kann bis heute begeistern, sogar gruseln – sieht man von der Werwolf-Szene ab. (Als sich die Leute der Umgebung unterhalten, »der Werwolf streife durch die Wälder«, zeigt das Bild eine Hyäne! Das sorgt heutzutage zugegebenermaßen eher für Gelächter als für Schauer, bleibt aber eine Ausnahme.) Interessanter sind – um zunächst bei Flora und Fauna zu bleiben – die Venusfliegenfalle und die mikroskopische Aufnahme eines »agierenden« Polypen, die in den Film geschnitten sind. Ungemein effektvoll und technisch beeindruckend ist das Bild der rasenden Fahrt des Häusermaklers Thomas Hutter (nach dem Drehbuch von Henrik Galeen, bei Bram Stoker Jonathan Harker) zur Burg des Grafen Orlok (Dracula), bei der Murnau Bildnegative verwendet hat, um die gespenstische Szene zu untermalen. Übrigens war schon seine frühe Version viragiert, das heißt die Bilder waren eingefärbt bzw. getönt. Leider ging diese originale Version verloren: Nach einem Urheberrechtsstreit sollten alle Kopien von »Nosferatu« vernichtet werden – glücklicherweise gab es zu viele. Die heute gezeigte(n), rekonstruierte(n) Versionen(n) wurden später (in den 1980er Jahren) bearbeitet und neu viragiert, auch die Texttafeln sind nachträglich wieder eingefügt.
Dabei ging man glücklicherweise sorgsam vor, dem Zauber wurde kein Abbruch getan. Max Schreck als Orlok ist nach wie vor wirklich schreckenhaft und grotesk, und daß sich beide Attribute irgendwie vereinen, paßt schließlich nicht nur zur Buchvorlage. Wie auch in der Frage, ob »Dracula« bzw. »Nosferatu« nicht eine Liebesgeschichte seien. Mina (Stoker) bzw. Ellen (Galeen) entwickeln eine Beziehung zum Vampyr, die man durchaus anders deuten kann. Ellen scheint schon zu Beginn nicht allein somnambul, sondern teils wie ein Medium. Und ist Orlok ihr nicht verfallen? Ob Liebe oder Begierde – was auch immer es war, es wird dem Vampyr am Ende zum Verhängnis.
»Nosferatu« zählt zu jenen Klassikern, die man oft sehen kann, weil sie nichts von ihrem Zauber verlieren. Und wie bei einer guten Sinfonie bemerkt man Dinge, die einem vorher nicht aufgefallen sind oder die nur nebensächlich schienen. Wie die Skurrilität der Szenerie, als Ellen am Strand auf die Rückkehr ihres Liebsten wartet – die Dünen ringsum sind gespickt von Totenkreuzen. Oder man sieht plötzlich doch ein Spiegelbild des Vampyrs – angeblich haben sie solche doch nicht. Weniger abseitig ist die Palme im Kübel, die den Garten ziert – in Wisborg (Wismar) lebte man mondän …
Ganz bescheiden stand Cameron Carpenter am Ende neben dem Spieltisch auf der Bühne, nahm den Applaus fast demütig entgegen. Dabei hatte er absolut gelungen »improvisiert«. Denn so stand es nicht nur im Programmheft, er spielte auch ohne Noten. Sicherlich hat er nicht frei im Sinne Improvisation über ein Thema phantasiert, sondern ein grundsätzliches Schema, einen Ablaufplan im Kopf gehabt. Daß es aber reibungslos und stimmig (in bezug auf den Film) »lief«, spricht für sein handwerkliches Können.
Und eines noch: das beim Rezensenten verhaßte Farblicht paßte diesmal ausnahmsweise – vor Beginn glühte der ganze Saal rot.
27. Januar 2024, Wolfram Quellmalz
Die Eule-Orgel des Kulturpalastes klingt am 7. Februar zum Auftakt des Dresdner Orgelzyklus‘. Olivier Latry spielt Werke von Jean-Louis Florentz, Johann Sebastian Bach, Louis Vierne und Marcel Dupré.