Ach, geht es uns gut (?)

Semperoper bringt Leonard Bernsteins »Candide« auf die Bühne

Mit der Einordnung von Leonard Bernsteins »Candide« ist es so eine Sache – Musical oder Operette? Was haben sie gemein, wo liegen die Grenzen? Das Jahresprogramm der Dresdner Semperoper nennt es eine »komische Operette« – da fragt man sich, ob Operetten nicht immer komisch sind oder ob es auch tragische gibt.

Doch um Etikette(n) soll es hier gar nicht gehen, trotzdem beginnt mit der Einordnung bereits eine Übertragung, Aneignung, ein Austausch: Bernstein hat Voltairs Satire über die »beste aller Welten« und die Fährnisse des Helden Candide aus der Aufklärung inFrankreich seiner Auffassung angepaßt; mit jeder dem Publikum präsentierten Aufführung gibt es eine zweite Übertragung – da gerät der originale Voltaire in Gefahr, in den Hintergrund gerückt zu werden. Für die Übertragung vom Broadway Theatre in New York an die Semperoper nach Dresden hat sich Dramaturgin Dorothee Harpain für die deutsche Textfassung von Vicco von Bülow alias Loriot entschieden. Seine ironischen Kommentare und Texte, gerade zur Musik, sind dem Publikum vertraut und bei ihm beliebt, allerdings treffen sie bei weitem nicht die satirische Schärfe des Originals. Nicht zuletzt – und das sei trotzdem mit einer kleinen Verneigung in Richtung des Autors gesagt – ist Loriots Humor mittlerweile etwas abgestanden. Sollte Theater nicht in der Zeit bleiben, in der es aufgeführt wird?

Kokett: Cunegonde (Erin Morley) und Candide (David Butt Philip), Sächsische Staatskapelle Dresden, Photo: Sächsische Staatsoper, © David Baltzer

So »lustig« manche der Passagen sind, fehlt der Ironie in den Texten mittlerweile ein wenig die Distance, die aufgeklärtere Auffassung; unser Umgang mit Themen wie Krieg oder der Abholzung des Regenwaldes hat sich in den letzten Jahren doch erheblich gewandelt. Merke: auch der Humor unterliegt dem Zeitgeschmack (wer mag, lese Mozarts »Bäsle-Briefe« und überlege, ob er dies heute lustig fände, wenn es nicht von damals und von Mozart wäre).

Vielleicht hätte es Möglichkeiten gegeben, einen aktuelleren Text zu verwenden, doch für nur drei konzertante Aufführungen war dieser Aufwand der Semperoper wohl zu groß. Allerdings ist die gewählte Alternative nicht schlecht, denn mit Jan Josef Liefers hat man einen genialen Erzähler gefunden, der nicht nur Publikumsliebling ist, sondern die Texte pointiert vortragen und dabei mitspielen kann. Denn über das konzertante hinaus waren Solisten und der Sächsische Staatsopernchor Dresden (Einstudierung: Jan Hoffmann), der zur Meeresfahrt des Helden Candide auch einmal schunkelte, äußerst beweglich.

Genial: Old Lady (Tichina Vaughn) mit Verehrern (Aron Pegram und Vladyslav Buialskyi), Sächsische Staatskapelle Dresden, Photo: Sächsische Staatsoper, © David Baltzer

Liefers‘ nonchalante Kunst ist gar nicht hoch genug zu werten, vergleicht man sie beispielsweise mit anderen Auftritten von Publikumslieblingen, etwa zu Silvesterkonzerten, die schon peinlich ausfielen. Als eingebundener Erzähler nahm er immer wieder am Geschehen teil, natürlich ohne einzugreifen, kommentierte vorwitzig wie ein altkluger Schulbub, kokettierte gern mit der genialen Tichina Vaughn, welche die Old Lady spielte, aber mehr Grande Dame und kein bißchen »old« war. Tichina Vaughn, früher im Ensemble, heute Gast der Semperoper, brachte glühende Broadway-Atmosphäre auf die Bühne, ließ amerikanische und Latino-Rhythmen blühen. Herber Charme und glutvolle Wärme verband sie mit Verve, aber ohne daß das Temperament überschäumte.

Auch Erin Morley als Cunegonde wußte »aufzudrehen«. Fehlte anfangs ob der konzertanten Fassung und des nicht mehr taufrischen Witzes noch der Pep, trumpfte Erin Morley in den Cunegonden-Szenen mächtig auf: die Baronstochter führt vor, wie schön sie Koloraturen gelernt hat. Doch klingt das weder nach Mozart noch Rossini, sondern nach wildem Broadway – großartig!

Pointiert: Geniales Dirigat von Karen Kamensek, Sächsische Staatskapelle Dresden, Photo: Sächsische Staatsoper, © David Baltzer

Denn Broadway soll auch immer ein wenig »dreckig« sein. (Bernstein hat sich zum Beispiel für »West Side story« Sänger gewünscht, die keine klassische Ausbildung haben.) Aber wie könnte das mit der Sächsischen Staatskapelle zusammenpassen? Glänzend! Denn Dirigentin Karen Kamensek (Hausdebut), die nach eigener Aussage jede Note des Stückes liebt, versuchte nicht, aus der Staats- eine Musicalkapelle zu machen, nutzte aber den schlanken, beweglichen und edlen Klang für pulsierende amerikanische Rhythmen. Vor allem lenkte sie die ganze Aufmerksamkeit auf die musikalische Szene, und das gelang ihr ausgezeichnet! Die Beweglichkeit des Sounds tangierte daher klassisch-kammermusikalisch ebenso wie Hollywood-Filmmusik. Immer wieder formte Kamensek aus dem Orchester kleine Bläser- und Streicherensemble oder setzte mit Blechbläsern und Trommel Akzente.

Reißerisches Trio: Old Lady (Tichina Vaughn), Cunegonde (Erin Morley) und Candide (David Butt Philip), Sächsische Staatskapelle Dresden, Photo: Sächsische Staatsoper, © David Baltzer

Daher konnten sich zum Premierenabend viele Sänger noch steigern: David Butt Philip klang anfangs noch recht britisch, gewann aber mehr und mehr eine amerikanische Ausstrahlung. Christoph Pohl nutzte als Doctor Pangloss und Martin sein Spieltalent, um den Figuren Glaubhaftigkeit zu verleihen. Auch Aaron Pegram erwies sich als Governor, Vanderdendur und Ragotski als im Genre erfahrener Solist mit Spiellust. Das gar nicht so kleine Ensemble wurde mit Nicole Chirka (Paquette), Joshua Hopkins (Maximilian) und anderen ergänzt.

Die Frage, welche nun die »beste aller Welten« ist, blieb vorerst also offen. Voltairs Sicht mag man ebenso eine naive Brille aufsetzen wie die Erfahrung daraus ableiten, daß man sich mit allem, was da komme, arrangieren kann. Daher sei dem Leser neben der erfrischenden (Wieder)lektüre von Voltaires »Candide« »Jacques der Fatalist und sein Herr« zur Alternative empfohlen. Denis Dideros gehörte wie Voltaire zur Epoche der »Aufklärung«.

12. Mai 2025, Wolfram Quellmalz

Heute noch einmal sowie am 18. Mai: Leonard Bernstein »Candide«, Semperoper Dresden, mit Karen Kamensek (Dirigentin), Jan Josef Liefers (Erzähler), Tichina Vaughn, Erin Morley, Christoph Pohl und anderen

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