Schuberts »Winterreise« in der Versöhnungskirche mit Frank Blümel und Marc Kirsten
Die Frage, ob der Winter nun am 28. Februar oder am 19. März zu Ende geht, mögen Meteorologen und Astronomen diskutieren, Sänger sind davon, soweit es nicht Befindlichkeiten des Halses und der Stimmbänder angeht, wohl unberührt. Viel eher erwägen sie, in welcher Fassung – je nach Stimmlage – sie Schuberts »Winterreise« vortragen. Frank Blümel und sein Begleiter Marc Kirsten hatten sich, der Lebendigkeit wegen, für die Urfassung entschieden. Vor Drucklegung wurden vier der 24 Lieder (6. »Wasserflut«, 10. »Rast«, 22. »Muth!« und 24. »Der Leiermann«) noch transponiert, teils von Schubert selbst, um die Erweiterung des Zyklus‘ um den zweiten Teil tonal anzupassen, teils (vermutlich) durch den Verleger Haslinger. Schubert war zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung allerdings bereits verstorben, somit sind die Nachschaffenden auf Analysen, Schlußfolgerungen und Vermutungen angewiesen.
Lebendigkeit kann man der Interpretation vom Sonntag allemal attestieren. Frank Blümels Tenor ist äußerst hell und offen und gewinnt mit seiner exzellenten Textverständlichkeit. Das bebende, emotionale Element lotete er vor allem in Zorn und Verzweiflung aus, traf aber vibrierend auch schon zu Beginn (»…die Mutter sprach von Liebe…«) ins Herz. Sein Wanderer war rastlos, suchend, hadert mit dem Schicksal, was Sänger und Begleiter durch Betonungen (»…der Winter kalt und wild…«) dramatisch ausformten, hatte die Innigkeit aber schon verloren. Seine Rückblicke, sei es im gleichlautenden Lied, im »Lindenbaum« oder im »Irrlicht«, gerieten eher erzählend als sehnsüchtig – hat da jemand schon abgeschlossen? Der »Frühlingstraum« zeigte – nein. Da ist einer, der hofft bis zuletzt, wenn auch zuweilen illusionslos.
Gestalterisch und technisch arbeiteten Frank Blümel und Marc Kirsten diese Winterreise sehr fein heraus, doch war dieses Herausarbeiten auch noch deutlich. Gerade die hohen Noten baute der Tenor fast immer auf, glitt in sie hinein; formte jeden Schlußvokal aus – das war technisch sauber und auch über die Dauer nicht langweilig, wirkte aber noch zu strukturiert, ohne Emotionalität und Ergriffenheit in höchstem Maße erschaffen zu können. Frank Blümel präsentierte den Winterwanderer weniger als leidenden und verzweifelten denn als Erzähler. Und dies sprach immer wieder auch den Kopf an, regte an, dem Text zu folgen. Zudem hielten die beiden Interpreten den Zyklus in stetem Fluß: die belebten, getriebenen Stücke folgten rasch aufeinander, für Zäsuren in der Stimmung gab es wenig längere Pausen, wie vor dem »Lindenbaum«. Die Betonung lag hier auf dem Stimmungswechsel, der Beruhigung, und nicht auf der Erwartung des berühmtesten Liedes aus dem Zyklus. Die vieldiskutierte Frage, wen oder was der Leiermann nun symbolisiert – viel wichtiger als jene nach dem Ende des Winters –, hielt Frank Blümel in der Schwebe. Ein Freund? Der Tod? Ein alter Mann? Wer weiß…
2. März 2015, Wolfram Quellmalz