Changieren zwischen Impressionismus und Symbolismus

Klavierabend mit Jean-Yves Thibaudet im Gewandhaus zu Leipzig

Es war ein Abend für Kenner und Liebhaber – daß die Kenner und Liebhaber »unter sich« blieben, kann man dabei gar nicht sagen, denn weder war der Klavierabend im Gewandhaus eine »geschlossene Gesellschaft« noch legten Werk und Interpret eine gestrenge Haltung mit bis zum obersten Hemdknopf geschlossenen Kragen nahe. Im Gegenteil – Claude Debussys Préludes leben von einer Luftig- und Farbigkeit, die vor allem eines voraussetzen: Hingabe. Sich hingeben setzt zunächst voraus, den anderen oder das Objekt – ob mit oder ohne Begierde – als das zu akzeptieren, was es ist, es mit Neugier zu betrachten.

Jean-Yves Thibaudet, Photo: © Andrew Eccles

Und genau dazu scheint Jean-Yves Thibaudet fähig. Seine Beschreibungen der 24 Préludes aus beiden Livre (L 117 und L 123), die der Pianist am Dienstag im Gewandhaus präsentierte, zielten weder auf einen geschlossenen Zyklus (sind sie auch nicht) noch auf eine unverrückbare Darstellung. Im Gegenteil wäre es interessant zu vergleichen, ob Jean-Yves Thibaudets Interpretation zu einem anderen Zeitpunkt nicht vielleicht hier und da abweicht. Die Freiheit, Freizügigkeit, Toleranz und Nonchalance wäre ihm zuzutrauen!

Wenn sich Claude Debussy gegen das schnell verpaßte Etikett des »musikalischen Impressionisten« wehrte, kann man dies – so gut das Siegel heute für uns »passen« mag – nur zu gut verstehen. Erstens natürlich, weil seine schöpferische Neuentwicklung damit in den Nimbus der Vergleichbarkeit und des Bekannten gesenkt wurde, aber auch, weil – bei genauerer Anhörung – eine ebenmäßige, klare Einordnung eben falsch ist. Jean-Yves Thibaudet zumindest fand neben den in der Tat vorhandenen zauberhaft impressionistischen Farbpartikeln nicht weniger symbolistisch rätselhafte Figuren. Sie schienen, um manche Emotion gesteigert, sogar zu überwiegen.

Gleichzeitig vermag der Franzose sogleich zu überzeugen, einzuvernehmen – mit einer tänzerisch grazilen Noblesse, mit welcher er im ersten Prélude (Danseuses de Delphes, Tänzerinnen Delphis) begann. Schon hier war ein Gegenüber wahrzunehmen, in diesem Fall der Anmut, einer Anmut der Bewegung. Die Geste fand im zweiten Prélude eine Fortsetzung: Voiles läßt sich gleichermaßen mit Schleier wie mit Segel übersetzen. Jean-Yves Thibaudet Spiel verdeutlicht den Zusammenhang von leichter Bewegung und energetischer Kraft – der gleiche Stoff kann, je nach Situation (oder Interpretation) beides sein!

Undine (zu Prélude Nr. 20), Illustration zu Friedrich de la Motte Fouqués gleichnamigen Märchen von Arthur Rackham, Bildquelle: Wikimedia commons

Anmut und Kraft waren vielleicht die Attribute, welche den Abend, zumindest den ersten Teil, prägten, wie das sprunghafte Les collines d’Anacapri (Nr. 5, Die Hügel von Anacapri), welches die Energie einer ganzen Landschaft geballt in sich trägt. Des pas sur la neige (Nr. 6, Fußstapfen im Schnee) beruhigte die Szenerie, bevor Ce qu’a vu le vent d’ouest (Was der Westwind gesehen hat) den nächsten Energieimpuls setzte. Erst jetzt machte Thibaudet eine kurze Verweilpause, um das zarte, besänftigende Wesen (La fille aux cheveux de lin, Das Mädchen mit dem flachsfarbenen Haar) nicht der Gefahr klischeehafter Banalität auszusetzen.

Kein Zyklus, und doch verbunden – Jean-Yves Thibaudet reihte die Bilder aneinander und fand einen erzählerischen Faden, ganz wie beim Comic-Karaoke, bei dem Kinder die Bilder des Spiels unabhängig (also auch scheinbar in unsinniger oder falschen Reihenfolge) anordnen und der erwachsene Erzähler die passende Geschichte erfinden muß.

Thibaudets Bilder blieben lebendig. Sie wuchsen nicht aus der Makellosigkeit, sondern umkreisten die Hörer, hatten doppelte Böden, waren ironisch, humorvoll, spitzbübisch. La cathédrale engloutie (Nr. 11, Die versunkene Kathedrale) mit seiner mystischen, verrätselten Klangsprache verbarg jazzige Anklänge, gleich nach der Pause durfte jeder selbst sinnen, wie er die verschwommenen Konturen der Brouillards (Nr. 13, Nebel) entschlüsselte – als seelische Geheimnisse oder doch im impressionistischen, der Darstellenden Kunst entlehnten Sinn?

Es blieb rätselhaft – Les Fées sont d’exquises danseuses (16, Die Feen sind ausgezeichnete Tänzerinnen) waren mit ihren Trippelschritten so ganz anders, gezierter als die Tänzerinnen Delphis vom Beginn, noch stärker entzog sich Canope (Nr. 22, Kanope) einer klaren Deutung. Großartig war, wie der Pianist die Spannung hielt. Nur einmal, Bruyères (Nr. 17, Heide), quasi das Gegenstück zum Mädchen aus dem ersten Livre, klang Debussy ein wenig simpel.

Überformt, ausgeformt, neu entworfen. Jean-Yves Thibaudet bevorzugte an diesem Abend kräftige Farben, war manchmal mehr veristisch als impressionistisch. Das abschließende Feuerwerk (Feux d’artifice) sprühte nicht nur Funken, es verriet auch ein hitziges Temperament. Das war kein Zyklus und doch irgendwie geschlossen und machte es schwer, eine Zugabe zu finden. Oder nicht? Statt eines raffiniert-unbekannten Zeitgenossen oder eines neuen Erfinders wählt Thibaudets Ravels Pavane. Das paßte zwar zu Zeit und Ort, reichte aber an die Préludes nicht heran.

21. Juni 2023, Wolfram Quellmalz

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