Dresdner Philharmonie im Silvesterprogramm
Statt leichter Muse und einzelnen Häppchen setzte die Dresdner Philharmonie in ihrem Silvesterprogramm auf ganze, durchaus ernstzunehmende Werke – keine vergnügliche Unterhaltungsmusik. George Gershwins Tondichtung gab dem Programm den Titel »Ein Amerikaner in Paris«, mit Leonard Bernsteins Symphonic Dances, einem Auszug aus der »West Side Story«, sowie Sergei Rachmaninows Sinfonischen Tänzen war das Trio der »Amerikaner« komplett – alle drei Komponisten waren entweder in Amerika geboren oder hatten dort wesentliche Lebensjahre verbracht. Doch nicht nur bei Rachmaninow lag das Thema der Emigration nahe, auch Gershwin erzählt letztlich nichts anderes als vom Leben in der Fremde, der Wahrnehmung dessen, was einen dort umgibt und vom Heimweh.
Solch faktische Zusammenhänge können allerdings recht uninteressant werden – da tut es einem Silvesterprogramm wohl, dann doch aufgelockert zu werden. Axel Köhler, bis vor kurzem noch Rektor der hiesigen Musikhochschule und auf dem Sprung in die Emigration – Pardon! – vor dem Wechsel nach Stuttgart, steht mit beiden Füßen ebenso fest in der ernsten Kultur wie in der Unterhaltung. Der Spagat, beides zu verbinden, gelang ihm mühelos. Für einen Rückblick bzw. eine Jahresauswertung schlug er zwei Fragen vor: Was hat gefehlt? sowie Was war zuviel?, um sogleich das Lächeln sowie das Lachen in den Mittelpunkt seiner Rede zu setzen. Die kleine, leicht umsetzbare Lebensphilosophie umschiffte die Klippen heikler Themen ohne Annäherungsangst und zog aus der historischen Beschreibung des Orchesters aus Sicht eines (anonymen) Hornisten den Schluß – da Schlagwerker zu den besonders kontaktfreudigen Musikern gehören und ihren Ärger sowie Aggressionen am Instrument abzubauen wüßten – eine therapeutische Dresdner Schlagzeuggruppe vor, am besten an einem Montagabend.

Ohne Häme oder beißenden Spott vorgetragen mußte niemandem das Lachen oder Lächeln gefrieren. So blieben die musikalischen Ausflüge wesentlich, wobei sich Paris als bindender Ort herausstellte. Denn nicht nur George Gershwin hatte seinen Amerikaner hierhin geschickt (bzw. eigene Paris-Erlebnisse darin verarbeitet), in allen drei Werken kam ein Instrument zum Einsatz, das in Paris erfunden wurde, aber selten im Sinfonieorchester zu hören ist: das Saxophon.
Und das durfte manchmal auffällig werden (Gershwin), sich dann wieder in den Holzbläserklang einschmiegen (Rachmaninow), immer bereit, spontan »über die Rampe« zu lugen. Ebenfalls gemein war den drei Werken eine ganz unterschiedliche rhythmische Prägnanz. Idiomatik oder schlicht Klang waren dagegen höchst verschieden. Dirigent Thomas Guggeis, der einen großen Teil seiner Zeit im Orchestergraben der Opernhäuser verbringt, verlegte jene gerade für die Oper so wichtige Spontanität am Sonntagabend auf die Bühne des Kulturpalastes. Auch ihm gelang ein Spagat, wußte er doch die Präzision von Einsätzen und dynamischen Verläufen mit einem freien, luftigen Klang zu kombinieren.
George Gershwins »An American in Paris« sog den musikalischen Puls aus dem turbulenten Leben der Metropole, fand spontan in die Überhöhung eines breiten Broadway-Sounds, während viele Besucher bei Leonard Bernsteins Auszügen aus der »West Side Story« wohl die jeweiligen Szenen bzw. Lieder im Kopf behielten. Am raffiniertesten erwiesen sich dennoch die Sinfonischen Tänze von Sergei Rachmaninow. Herrlich und wandlungsfähig durften hier die Orchestergruppen – incl. Saxophon – aufblühen. Mit den besten Wünschen für einen »guten Rutsch« und Johann Strauss‘ Radetzky-Marsch entließen Axel Köhler und die Philharmoniker ihr Publikum in die letzten beiden Stunden des Jahres.
1. Januar 2023, Wolfram Quellmalz