Uraufführung von Detlev Glanerts »Die Jüdin von Toledo« in der Semperoper frenetisch gefeiert
Solche Abende wie am vergangenen Sonnabend in der Dresdner Semperoper machen zukunftsfroh: die Uraufführung eines Werkes, dessen Stoff nicht nur berührt, sondern das den Besucher auch in seiner Tonsprache anspricht und mitreißt. Dazu hervorragende Darsteller und eine kongeniale Regie – was will man mehr?
Basierend auf dem gleichnamigen Trauerspiel von Franz Grillparzer hat Hans-Ulrich Treichel das Libretto für »Die Jüdin von Toledo« geschrieben, das die Liebesgeschichte der Jüdin Rahel und des der Intrigen und Kriege müden Königs Alfonso VIII. erzählt. Er fokussiert auf die Hauptpersonen, neben dem Liebespaar Rahels Schwester Esther und Alfonsos Gattin Eleonore, dazu Alfonsos Vertrauten Manrique sowie dessen Sohn Garceran, und legt damit den Grundstein für die ungeheure Dramatik und Spannung, die während der gut zwei Stunden fast ununterbrochen herrscht. Manches bleibt psychologisch allerdings etwas knapp.

Großartig wirkt die Musik von Detlev Glanert, die dem Werk Feuer und Farbe verleiht und ins Zeitgenössische paßt, selbst wenn die Idiomatik an Strauss‘ »Elektra« anzuschließen scheint. Die »Transportschiene«, wie der Komponist es bezeichnet, funktioniert: die Musik erweist sich als Träger der emotionalen Handlung. Jonathan Darlington entlockt der Sächsischen Staatskapelle die herrlichsten Klänge – ein Glühen und Blühen, aber auch ein subtiles Drohen und Drängen. Gerade mit dieser Schichtung, die vordergründiges (Begleitmusik) mit einem Hintergrund aus Glocken oder Militärmarsch verbindet, zeichnet Detlev Glanert ein psychologisches Profil. Allein die Entschlüsselung solcher Motive und Momente lockt schon, das Werk noch einmal anzusehen – es dürfte dem Mehrfachbesucher weitere Einblicke gewähren. Dem teils mächtig klangvollen Orchester stellt der Komponist an ausgewiesenen Stellen einen einzelnen Oud-Spieler (das arabische Lauteninstrument wird von Nassib Ahmadieh gespielt) gegenüber. Nur einmal schweigt die Musik ganz: Wenn der König, von der Königin dazu gezwungen, das Dekret zur Vertreibung der Juden und zur Tötung Rahels unterschreibt, herrscht atemlose Stille.
Herausragend ist die Sängerleistung: Christoph Pohl gelingt, stets balancierend zwischen dem sehnsüchtig zweifelnden Menschen und dem tatenkräftigen Herrscher, als König von Kastilien eine Darstellung, ebenso menschlich berührend wie psychologisch ausgefeilt. Ähnlich Heidi Stober, deren Rahel nur auf den ersten Blick ein naives junges Mädchen ist: sie folgt nicht allein ihrem Liebesideal, sie bildet außerdem eine Einheit mit ihrer älteren Schwester Esther. Lilly Jørstad beschränkt sich darin nicht auf Stereotypen von Besonnenheit oder Abgeklärtheit (obwohl sie immer ein Buch in der Hand hat, ist sie intellektuell, aber für Liebe nicht empfänglich?) – einfühlsam und liebevoll ist sie Rahel immer nahe. Als Esther das Liebespaar in seinem Liebesnest (zweiter Akt) warnt, erinnert das unwillkürlich an Brangäne in der kürzlich erlebten Tristan-Aufführung.
Dort war Tanja Ariane Baumgartner in der Rolle Brangänes eingesprungen, jetzt ist sie als Eleonore von England zu erleben. Sie bietet eine ebenso packende wie abstoßende Deutung: Nicht billige Eifersucht treibt sie an, Eleonore verzweifelt an ihrer Rolle: sie gebar dem König nur ein schwaches Kind und sieht keine irdische Erfüllung mehr für sich und ihn. Als sie im dritten Akt nichts anderes als einen Putsch anfacht, sorgt Tanja Ariane Baumgartner in der ohnehin spannenden Erzählung noch für eine Steigerung. Zuvor schildert Eleonore in ihrem Monolog, wie sie ihr künftiges (angestrebtes!) Glück mit dem König einschätzt: »Wenn wir uns küssen, stirbt die Welt. Aber ich werde nicht allein bleiben. In einen Sarkophag wird man uns betten, meinen König und mich. Wir werden zu Staub zerfallen und uns vermischen, wir werden eins sein, wie niemals zuvor. Aber bis dahin: Krieg!«
Es ist eine Oper voller Zwiespälte und Zweifel. Darin liegt eine Stärke des Stücks, es ist zugleich aber seine (vielleicht einzige) Schwäche: Manches bleibt zu vage oder wird gar nicht ausreichend hinterfragt. Hat das Libretto die Vorlage zu knapp gefaßt? Der Stoff wie die fulminante Musik hätten sicher auch über drei Stunden zu bannen vermocht. So fehlt Alfonso trotz Christoph Pohls starker Leistung manchmal die Glaubwürdigkeit. Einerseits kriegs- und pflichtenmüde, kehrt er tatkräftig und stark zurück: »Ich bin der König!« sagt er frei von Zweifeln und unterstreicht dies, indem er seinen Tisch in die Mitte des Saales rückt. Eleonores Vorwurf, ein »Knecht der Lüste« zu sein, scheint unberechtigt. Rahel und Alfonso haben Monate gemeinsam im Landhaus des Königs verbracht – da muß doch mehr als »Lust« gewesen sein? Daß Alfonso beständig Kopfschmerzen vorschützt und (wörtlich) »geh weg« sagt, läßt ein wenig am Libretto zweifeln.
Andere Ambivalenzen deckt die Inszenierung (Robert Carsen, auch Bühnenbild mit Luis F. Carvalho) auf oder gibt Denkräume frei. Schon zu Beginn geistern die Schatten der Protagonisten über die Bühne (Garten des Schlosses). Es sind, zeigt sich, keine Schatten der Vergangenheit, sondern jene, die die Gegenwart in die Zukunft wirft. Im zweiten Akt versöhnen sich Mauren und Christen, deren Truppen draußen einander gegenüberstehen. Es ist aber nur ein Traumbild, das Rahels und Alfonsos Liebesnacht ausfüllt.
Das reiche Bühnenbild mit Maurischen Bögen und Öllämpchen wird niemals vordergründig und bebildert das Geschehen geradezu symbiotisch – offenbar sind Stück und Regie gemeinsam gewachsen. So bleibt die Bühne vor allem der Aktionsraum für den hervorragenden Staatsopernchor (Einstudierung: Jonathan Becker) und die Solisten. Markus Marquardt als Manrique, Graf von Lara, eigentlich ein Vertrauter Alfonsos, ist in seiner Unzufriedenheit über den einstigen Zögling hin- und hergerissen: dem König treu, hat sein Schüler doch das Ziel verfehlt. Manrique stellt sich schließlich an die Seite der Königin bzw. der Macht. Sein Sohn Don Garceran, von Aaron Pegram dargestellt, ist ein Bote und Indikator am Scheideweg: Wenn er dem König in markanter Schärfe sagt »So sind die Regeln!«, belehrt er seinen Herrn nicht, sondern macht ihm den Ernst der Lage unmißverständlich deutlich. Unklar bleibt, warum der König seine Rolle und die Beziehung zu seinen Untergebenen nicht hinterfragt – sie morden schließlich nicht nur Rahel, die feindliche Jüdin, sondern plündern sein Haus (was die Regie aber mit einem Vorhang verdeckt).
Der letzte Akt ist im Grunde nur ein Bild: die Christen lassen ihre Waffen segnen, im Vordergrund liegt die ermordete Rahel. Am Ende verschwinden die Dekorationen, Videos von Panzern, Kriegsschiffen und Hubschraubern werden auf die Bühne projiziert. Nun also doch eine Übertragung in unsere Gegenwart. Sie scheint überflüssig, denn das Drama geht dem Besucher so nahe, daß es wohl niemand nur als »Historie« sehen wird, ohne an die Gegenwart zu denken. Für seine Leistung wurde das gesamte Ensemble mit langem Applaus gefeiert.
11. Februar 2024, Wolfram Quellmalz
Detlev Glanert »Die Jüdin von Toledo«, Semperoper Dresden, weitere Vorstellungen heute sowie am 18. und 26. Februar und im März.