Zwischen den Welten – zwischen den Tönen

Chorsinfonisches Konzert an der Musikhochschule

Ursprünglich ist es ein Prinzip, das Empiriker und Naturwissenschaftler wie Archimedes oder Newton angetrieben hat: wer ein Problem löst, eine Frage beantwortet, deckt dabei mehr neue Probleme und Fragen auf, als es an seinem Ausgangspunkt gab. Oder wie Albert Einstein gesagt hat: »Je mehr ich weiß, um so mehr weiß ich, daß ich nichts weiß«. Jedoch läßt sich der Sachverhalt auch vom wissenschaftlichen Kontext lösen und auf die Wahrnehmung jedes Einzelnen übertragen – wissen wir wirklich, was wir »wissen«?

Das Chorsinfonische Konzert in der Musikhochschule machte die Frage zum Motto: »Was wir nicht wissen« war mehr als nur der Titel des Uraufführungsstückes. Weil damit nicht nur ein (fataler) Zustand festgestellt werden sollte, gab es sogleich neues zu erfahren, das über einen Wissenszuwachs hinaus mit einer veränderten Wahrnehmung verbunden war: Wolfgang Saus, der sich seit mittlerweile Jahrzehnten als Solist mit Obertongesang beschäftigt, brachte dem Publikum anhand einer einfachen Zeile das Prinzip näher – indem er die nicht mit einem Sinn behafteten, monoton gesungenen Silben immer weiter reduzierte, Konsonanten entfernte, entzog er den Text der Verständlichkeit und damit der Übermacht unseres Sprachzentrums, welches bei den meisten das Hören dominiert. Seiner Aufgabe entledigt, durfte die andere Gehirnhälfte einmal »dominant« wahrnehmen, und höre da – in den Obertönen der Monotonie verbarg sich eine Melodie (»Freude schöner Götterfunken«).

Visualisierung von Gaumensegelresonanzen, Veranstaltungsplakat zu »Was wir nicht wissen«, Bildquelle: HfM

Derart vorbereitet, konnte jeder die Uraufführung, Julius von Lorentz‘ »Was wir nicht wissen« aufgeschlossen erfahren. Der Komponist hatte sein Werk dezidiert für den Konzertsaal der Musikhochschule, also den Ort der Uraufführung geschrieben, und hier zunächst Werke von Mendelssohn und Puccini, die auch zum Programm gehörten, immer wieder abgespielt und neu aufgenommen. Auf diese Weise erlangte er immer neue Aufnahmen, bei denen sich ein charakteristischer Raumklang nach und nach deutlicher abzeichnete – die Grundlage für die neue Komposition. »Was wir nicht wissen« spielt mit allen Mitteln, nicht nur des Klangs, sondern außerdem des Lichts, das je nach Intensität oder Dynamik lauter = heller wurde, wieder verdunkeln und aufgleißen konnte.

Frappierender waren die Klangeffekte, die aus Zwischentönen und Überlagerungen erwuchsen. Der Hochschulchor klang dabei mitunter instrumental oder technisch wie ein Windgebläse, die Klänge waren quasi künstlich-künstlich (nachgebildete Geräusche) oder künstlich-natürlich (zum Beispiel vokal gesungene Passagen), wobei ein stetiges Fließen in Wellenform kennzeichnend blieb. Ein Solistenquintett um Wolfgang Saus formte den Klang mit, beteiligte sich an den verschobenen Klangzentren, die sich erst auf der Bühne verteilten und konzentrierten und schließlich mit dem von der Tribühne heruntergekommenen Chor im Saal flächig bzw. räumlich ausfüllend darstellte. In den Mittelpunkt und ins Zentrum des Programms gerückt, bekam die Uraufführung bei gehobener Wahrnehmung eine besondere, durchweg positive Aufmerksamkeit.

Eingerahmt wurde das am Sonntag von Absolvent Konrad Schöbel (Sonnabend: Olaf Katzer) dirigierte Werk von Felix Mendelssohns »Wer nur den lieben Gott läßt walten« und Giacomo Puccinis Messa a quattro voci, wobei Mendelssohns Werk um den bekannten Choral seinen Charakter zwischen Motette und Kantate offenbarte – weniger eine Dramaturgie und Handlung war maßgebend, sondern die zentrale Sopranarie (Sonnabend: Marlene Walter, Sonntag: Sarah Keller).

Die abschließende Messe bot dem Chor und er Sinfonietta, die bei Mendelssohn zunächst allein mit Streichern begonnen hatte, Gelegenheit, ihren warmen, vollen Klang noch weiter aufzufächern und zu teilen. Unter den Solisten (Jongwoo Hong, Ilya Silchuk, Jonathan Koch) gefiel am Sonntag besonders Bariton Willy Wagner mit seinem schönen, sicheren Solo sowie im Duett mit Tenor Kota Katsuyma.

24. März 2024, Wolfram Quellmalz

Die nächste Begegnung Neuer und älterer Musik im Konzertsaal der Musikhochschule mit der Sinfonietta Dresden gibt es am 26. April beim Programm »Schnittpunkte«

https://www.hfmdd.de

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