Don Quichotte als komisches Ballett
Klar ist es schön, die großen Stücke an den großen Häusern zu erleben, vielleicht gar eine Premiere. Im wesentlichen sollte die Oper bzw. das Theater aber doch zwei Dinge können: Erstens eine Geschichte erzählen, wozu zweitens ein Ensemble nötig ist, das gemeinsam ins Spiel findet, damit die Interaktion auf der Bühne auch das Publikum berührt. Insofern gehen die Neuen (musikalischen) Blätter immer gerne auf Ausflüge zu kleineren Stadt- oder Landestheatern, wo wir zum Beispiel kürzlich eine erfrischende »Carmen« erlebten (gesehen in Döbeln, unser Bericht hier: https://neuemusikalischeblaetter.com/2024/05/17/lust-oder-luder-mittelsachsisches-theater-offenbart-in-carmen-letztlich-menschliche-zuge/).

Etwas weiter als das Mittelsächsische Theater, aber nicht so weit wie Leipzig entfernt liegt das Nordböhmische Theater Ústí nad Labem (Severočeské divadlo opery a baletu v Ústí nad Labem), nur wenig über 60 Kilometer (eine gute dreiviertel Stunde) von Dresden in südlicher Richtung. Am Dienstag nutzten wir eine »Konzertlücke« für einen Besuch dort. Schließlich gab es ein ungewöhnliches Stück zu erleben: Ludwig Minkus‘ »Don Quichotte« bzw. »Don Quijote«, ein Ballett. Sie kennen weder Komponist noch Werk? Ludwig bzw. Léon Minkus (1826 bis 1917), im Wien der Kaiserzeit als Aloysius Bernhard Philipp Minkus geboren, wirkte unter anderem in Paris, lebte viele Jahre in Sankt Petersburg, und trat an seinen Lebensorten als Ludwig Alois Minkus, Ludwig Fjodorowitsch Minkus oder Ludwig Fjodorowitsch Minkous in Erscheinung. Als Komponist schuf er um die zwanzig Ballette, arbeitete zum Beispiel mit Marius Petipa eng zusammen. Gemeinsam schöpften sie »Don Quijote« (unterschiedlich als Grand Balletoder Komisches Ballett bezeichnet), das den Roman von Miguel de Cervantes aufgreift. Uraufführung war am 26. Dezember 1869 am Bolschoi-Theater in Moskau.
HANDLUNG
Don Quijote, ein tragischer Held, hat geträumt, die Jungfrau Dulcinea sei von Riesen entführt worden. Mit seinem Freund Sancho Panza bricht er auf, sie zu retten.
Zur gleichen Zeit in einem Dorf: Die schöne Kitri und der Barbier Basilio lieben sich. Aber Kitris Vater ist gegen die Liaison und will mit Gamache verheiraten – dumm, aber reich. Kitri und Basilio fliehen und verstecken sich in einem Zigeunerlager, wohin es auch Don Quijote und Sancho Panza verschlägt. Ihre Abenteuer verschlingen sich zunächst auf turbulente Weise (Kampf gegen die Windmühlenflügel inclusive), bevor Kitri und Basilio in ihr Dorf zurückkehren, um letztlich doch zu heiraten.

Nicht ohne Grund wird Don Quijote auch ein »Ritter von der traurigen Gestalt« genannt. Ob wirklich Ritter, Melancholiker oder nobler Gentleman (oder von jedem etwas) – ein wenig naiv scheint er schon, trotz seiner Lebenserfahrung. Denn der jüngste ist Don Quijote eben leider nicht mehr. Sein getreuer Sancho Panza, ein einfacher Mann, scheint manchmal hellsichtiger …
INSZENIERUNG UND AUFFÜHRUNG
»Don Quijote« wurde im Laufe der Aufführungen bereits früher leicht verändert. Die ursprüngliche Choreographie von Marius Petipa ist leider nicht erhalten, wurde aber zum Teil von seinem Schüler Alexandr Gorskij notiert. Margarita Pleškova und Vladimir Gončarov haben auf Basis der erhaltenen Fassungen von Libretto und Choreographie eine Inszenierung erarbeitet, die nicht nur farbenfroh, sondern auch schlüssig ist (Bühne und Kostüme: Josef Jelínek). Ihre Interpretation fügt sich passend in die Zeit der Geschichte bzw. des Werkes, incl. der romantischen Auffassung des »Zigeunerlagers«, das hier nicht allein ein Versteck ist, sondern einen exotischen und geheimnisvollen Sehnsuchtsort darstellt. (Und einen, wo wunderliche Dinge passieren.)
Wesentlich für die Erzählung sind heitere, überspitzte Darstellungen bzw. ironische Szenen, gerade mit Don Quijote und dem Gamache. So läßt sich durchaus eine Entwicklung erkennen und erwarten: muß denn er trottelige, lange vom Vater hofierte Gamache am Ende von selbst einsehen, daß er nicht Kitris Bräutigam werden kann? Schließlich hat er mit eigenen Augen gesehen, wer das ein wirklich verliebtes Paar ist. Und wohnt dem naiven Don Quijote nicht nur Edelmut, sondern auch moralische Hellsichtigkeit inne, wenn er mit dem Heben der Lanze am Ende den Streit beendet und den Weg für das Liebespaar freimacht?

Im Tänzerensemble (unter anderem Ewelina Wszolek als Kitri, Manaf Ferkh als Basil, Jan Vozáb als Sancho Panza und Elena Mazanova als Dulcinea, bei uns teilweise bereits in Aufführungen am König-Albert-Theater in Bad Elster zu erleben) wirkt Regisseur und Choreograph Vladimir Gončarov selbst als Don Quijote mit. Doch nicht nur seinetwegen lohnt die Vorstellung. Vor allem herrscht eine Ausgewogenheit zwischen erzählenden Passagen mit humoristischen Einfällen und einer Choreographie, die das iberische Kolorit unterstreicht. Dabei bleibt sogar ein Rahmen (Don Quijotes Traumsequenz) erhalten, bei dem noch auf Cervantes‘ Vorlage verwiesen wird.
Gelungen ist der Ablauf auch dahingehend, daß die sportlich-akrobatischen Chorographien der Tänzer nicht bloß als »Nummern« aufeinanderfolgen, sondern szenisch verbunden sind. Mit dabei sind Theaterkinder, die szenisch mitwirken, manchen Spaß machen und dabei sogar Nebenrollen übernehmen. Insgesamt entsteht der Eindruck einer gemischten Form zwischen Ballett und darstellendem, aber »stummen« Theater (es wird weder gesungen noch gesprochen). Familientauglich läßt sich die Handlung dennoch leicht verfolgen und setzt keine tiefen Vorkenntnisse etwa des Buches voraus.

Dirigent Nazar Yakobenchuk und das Opernorchester agieren in einem prächtigen Orchestergraben. In der Regel sind die Musiker auf beengtem Raum unter der Bühne verborgen – in Ústí nad Labem gibt es keinen schmalen »Graben«, sondern eine richtige Orchesterwanne, die zum Beobachten einlädt.
Der Spielplan des Nordböhmischen Theaters blickt nicht über eine ganze Spielzeit, sondern in der Regel auf etwa zwei Monate voraus. Heute steht »Carmen« auf dem Programm, in der kommenden Woche präsentiert das Schauspiel Molières »Geizhals«. Es lohnt, für einen Ausflug in den Kalender des Theaters zu blicken. Außerdem sind künftig weitere Gastspiele in Bad Elster möglich.
17. Mai 2024, Wolfram Quellmalz
https://koenig-albert-theater.de/spielplan/spielplankalender