Döbelner Premiere von überragendem Ensemble getragen
Der Werkekanon deutscher Opernhäuser soll statistischen Erhebungen zufolge aus einem Kern von gerade einmal 200 Stücken bestehen, die regelmäßig gespielt werden. Einige darunter, wie »Tosca«, »Zauberflöte« oder »Carmen« sind regelrechte Dauerbrenner. Warum nur? Weil uns die Geschichten um Liebe immer wieder berühren? Vermutlich. Aber wohl auch, weil sie die Figuren, die Heldinnen und Helden, menschlich und fehlbar darstellen, weil wir uns darin wiedererkennen, mit ihnen leiden.
Wie also damit umgehen, wenn man »Tosca«, »Zauberflöte« oder »Carmen« wieder und wieder auf die Bühne bringt? Der eine Ansatz besteht darin, den Zugang zum Werk durch Überhöhung, Verlegung in Ort und Zeit oder Verschiebung der Charaktere zu verändern. Das ist mit Sicherheit auffälliger und Spektakulärer, öffnet die Chance einer Annäherung an unsere Verhältnisse (soweit sie sich spiegeln lassen), birgt aber die Gefahr des Scheiterns, wenn sich eine Regieidee als nicht tragfähig erweist. Der andere Weg ist der nur scheinbar leichtere, denn eine konventionelle Interpretation erfordert nicht weniger eine glaubhafte Charakterdarstellung und die Herausarbeitung von Beziehungen, so daß das neue Erzählen einer bekannten Geschichte spannend bleibt.

Das Mittelsächsische Theater hat sich im Fall von Georges Bizets »Carmen« für den zweiten Fall entschieden und erntete bei der ersten Premiere in Döbeln einen berechtigten Erfolg, denn dem Spiel haftete nicht seine konventionelle Erzählweise an, sondern eine authentische, die noch dazu klassische Theaterqualitäten bediente: die Figuren orientieren sich an den Stärken des Ensembles und die musikalische Umsetzung geriet mitreißend. Hinzu kommt, daß das Inszenierungsteam um Regisseurin Judica Semler über handwerkliches Können verfügt – eine Qualität, die im eindrucksvollen Ideenspektakel sonst nicht selten vergessen wird oder verlorengeht.
Der Stoff ist klassisch: der Sergeant Don José verliebt sich in die verführerische Carmen, die gern mit dem Feuer zu spielen scheint. Das Bauernmädchen Micaela, mit dem ihn die Mutter gern verbunden sähe, vergißt er allmählich. Doch Carmen will keine dauerhafte Beziehung, scheint schnell andere Liebste zu haben – den Leutnant Zuniga, den Torero Escamillo … Immer wieder warnt sie selbst »Ich will keine Liebe von Dir« oder »Wenn ich Dich liebe, nimm Dich in acht!« – ist das ehrlich?

Das Beziehungsgeflecht weitet sich schnell, nicht nur im Dreieck oder Viereck – immer mehr Personen geraten in Carmens Bann, aber auch immer mehr Menschen stehen zu ihr oder zu Don José in Beziehung. Was ihn quält, ist nicht einfach rasende Eifersucht, sein ganzes Wertesystem zerfällt. Bei Judica Semler und Ulv Jakobsen (Ausstattung) legt Don José zu Beginn seine Armeehemden zusammen und benutzt dazu eine Faltschablone – eine perfekte, leicht herzustellende Ordnung. Später liegen die Hemden zerknüllt in den Spint gestopft – der Schrank bleibt am Bühnenrand und ist eine Art Ordnungsbarometer, in dem sich nicht nur Hemden, sondern Bilder und Blütenblätter sammeln. Es gehört zur Inszenierung, daß sie die Figuren gut führt, die einzelnen wie den Chor, das Ballett (Choreographie: Rodrigo Opazo Castro) oder die Kinder (Freiberger Domkurrende) immer gut in Szene setzt und nebenbei kleine Szenen ablaufen läßt oder das große Bild mit Details anreichert – sie ergänzen und lenken niemals ab.
Somit bleibt die Geschichte »konventionell« bei den Personen, die aber ganz in den Sängersolisten aufgehen, selbst dann, wenn es zwei sind: Frank Unger spielte in der Premiere Don José mit den Sprechtexten, wegen einer Indisponiertheit übernahm Inkyu Park, ein junger Tenor des Hauses, die gesungenen Texte vom Bühnenrand. Das gelang so übereinstimmend, daß sich letztlich beide Personen deckten.
Als gewöhnungsbedürftig (zumindest für verwöhnte Rezensenten) ist in heutiger Zeit, daß eine deutsche Textfassung gesungen wird. Im allgemeinen paßt die Originalsprache viel besser in die Musik, das Verständnisproblem läßt sich ja ohne Probleme durch Übertexte lösen. Doch auch hier überzeugt das Mittelsächsische Theater mit ausgezeichneter Verständlichkeit bei Solisten wie in Chorszenen. Kirsten Scott (Carmen) entwickelte nach leicht verhaltenem Start einen leidenschaftlichen Ton und glutvollen Furor. Lindsay Funchal gewann Micaela deutlich erwachsene Qualitäten ab und beließ das Bauernmädchen nicht in der »Mauerblümchenecke« – hätte Don José nicht besser nach ihr geschaut? Beomseok Choi sorgt als Escamillo geradezu für Showeinlagen, die an die Aufwärmphase von Auftritten bei Boxern erinnern. Auch Frank Blees (Zuniga), Gregor Roskwitalski (Morales), Hyerin Park (Frasquita) und Heain Youn (Mercedes) gelangen starke Charakterdarstellungen.

Im Orchestergraben liegen die Geschicke beim bewährten Kapellmeister José Luis Gutiérrez Hernandez, der nicht nur den musikalischen Zusammenhang auf der Bühne herstellt, sondern die Mittelsächsische Philharmonie im Graben und hinter der Bühne geradezu aufblühen läßt. Trotz scheinbarer Unterbrechung durch gesprochene Texte stellt sich somit ein Fluß her, der immer wieder motivische Auf- und Rückgriffe vornimmt, wie auf die Habanera- oder Torero-Motive. Das unterstreicht nicht zuletzt verschiedene Glutstufen der Leidenschaft und erlaubt leichte, operettenhafte Liedeinlagen.
Carmen, scheint es, verbrennt jede Liebe (»Du liebst mich nicht« sagt sie im zweiten Akt zu Don José), Micaela beklagt ihre Teufelskunst – ist Carmen eine Teufelin? Ist Don José ein Dummkopf, der ihr verfällt? So einfach lassen sich die Charaktere dann doch nicht festlegen, schließlich zeigt sich Carmen am Ende menschlich, als sie Don Josés Suizid verhindert. Also war alles nur ein »Unfall«?
4. Mai 2024, Wolfram Quellmalz
Georges Bizet »Carmen«, Mittelsächsisches Theater