Nur vier Tage nach dem Dresdner Abschied dirigierte Christian Thielemann in Berlin die »Alpensinfonie«
Eben noch hatte er in Dresden das letzte, wirklich allerletzte Konzert als Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle dirigiert, Abschied gefeiert, vier Tage später stand Christian Thielemann schon wieder vor einer Staatskapelle, aber jener in Berlin – marginale 22 Jahre jünger als die Sächsische, wobei er hier, an der Staatsoper Unter den Linden, ab September sogar als Generalmusikdirektor fungiert. Auf Mahler 8 in der Semperoper folgte mit Richard Strauss‘ »Alpensinfonie« auf dem August-Bebel-Platz direkt neben der Lindenoper gleich noch ein gewichtiges Werk. Da dürfte kaum ein Tag Pause zwischen dem Konzert in Dresden und den Proben in Berlin gewesen sein. Und selbst das reicht nicht – ohne straffe Koordination und ein verläßliches Team geht so etwas nicht, der Mann ist also gut organisiert. Da könnte die Tätigkeit als Honorarprofessor an der Musikhochschule Dresden künftig noch Früchte tragen. Denn einer der Studenten, die Christian Thielemann hier in einem Meisterkurs unterrichtete [NMB berichteten], Tim Fluch, kommt mit dem Spielzeitbeginn als Assistent an die Lindenoper.
Der direkte, terminlich lückenlose Anschluß setzt sich noch in den Bildern fort: jenes Portrait von Matthias Creutziger, das Christian Thielemann beim Dirigieren von vorn zeigt, zierte nicht nur den Titel des letzten Dresdner Programmheftes, der GMD schaut einem auch von der neuen Spielzeitbroschüre in Berlin entgegen.

Am Sonnabend vor einer Woche konnte man dies [Bild] sogar »in echt« erleben – zum achtzehnten Mal hieß es auf dem August-Bebel-Platz »Oper für alle« mit Konzerten am Freitag und Sonnabend. Wobei am zweiten Tag das Opernkinderorchester (Leitung: Giuseppe Mentuccia) und der Kinderchor der Staatsoper Unter den Linden (vom an der HfM Dresden ausgebildeten Vinzenz Weissenburger geleitet) mehr als nur ein Vorprogramm waren. Der Kinderchor hatte nach Duke Ellingtons »It don’t mean a thing« mit »Das Unwetter« (mit einem neuen, eigenen Text auf Robert Schumanns Opus 29 Nr. 3, eigentlich »Zigeunerleben«) quasi die Elemente herausgefordert – das Wetter zeigte sich aber erfreulich milde. Das Opernkinderorchester, aus Kindern der Berliner Musikschulen zusammengesetzt, präsentierte vier der Slawischen Tänze Antonin Dvořáks. Zuvor hatte es Maria Kokareva, die zum Ensemble der Lindenoper gehört, im »Lied an den Mond« aus »Rusalka« begleitet. Während der angesungene bereits über den Nachmittagshimmel zog, lockte und circte die Sopranistin mit schlanker Stimme und aufwühlendem Vibrato – diese Rusalka machte neugierig! Neben der Nixe übernimmt Maria Kokareva in der kommenden Spielzeit den »Falken« in »Die Frau ohne Schatten«, Frasquita in »Carmen« und Susanna in »Figaro«.

Etwas deutlicher zeichnete sich der Mond am Abend ab, als Christian Thielemann das Podium betrat. Natürlich ist die Berliner Innenstadt am Tage nicht mit der Nacht und dem Sonnenaufgang in den Alpen gleichzusetzen, doch kehrte im Publikum bald eine fast andächtige Stille ein, und spätestens mit dem »Aufstieg« war die Atmosphäre musikalisch bereitet. Zwar fühlte man sich auf dem Platz weiter weg von der Bühne als im Konzertsaal, dafür gab es aber eine große Leinwand und den Meister – wie auf dem Creutziger-Photo – direkt von vorn. Und dieses Bild zeigte einen entspannten Thielemann, der umsichtig bat und ordnete, vor allem aber mehr mit den Augen als mit den Händen zu kommunizieren und zu erklären schien.
Das paßt zur Situation über die glückliche Ankunft, wie es von allen Seiten dargestellt wird. Vor zwei Jahren war Christian Thielemann erstmals bei der Berliner Staatskapelle eingesprungen, zunächst für Herbert Blomstedt, später für Daniel Barenboim, dirigierte unter anderem auf einer Gestspielreise sowie den »Ring«. Insofern steht hier eigentlich kein Neuanfang mehr bevor, sondern eine Fortführung.

Und die kann vom flexiblen Klang des Orchesters ebenso profitieren wie von der Flexibilität eines Dirigenten, der die Vorzüge eines Klangkörpers erkennen kann und damit umzugehen weiß. In der »Alpensinfonie« setzte Christian Thielemann dies bereits effektvoll um, nicht nur, als zwölf Hörner den »Aufstieg« vom Balkon der Juristischen Fakultät ausleuchteten. Auch in Berlin wußte Thielemann einen leichten, durchhörbaren Klang zu erzeugen, den er nach Belieben um den Hauch feiner Nuancen (kantables Englischhorn) oder gewichtiger Alpengipfel (Blechbläser) anreicherte – eindrucksvoll!

Solch ein Einstand macht neugierig, eine Neugier, die Thielemann künftig mit »U30«-Angeboten (öffentliche Generalproben) ebenso füttern möchte wie mit ausgewählten Schwerpunkten: Strauss‘ Orchesterlieder sollen über die nächsten Jahre eine Gesamtaufführung erfahren, auch Franz Liszts Sinfonische Dichtungen stehen auf dem Programm so wie jedes Jahr mindestens eine Bruckner-Sinfonie. Dazu Mendelssohn, Henze und zeitgenössische Musik. sowie eine ganz besondere Erstaufführung: Richard Strauss‘ »Die schweigsame Frau« gab es ausgerechnet an jenem Haus, wo der Komponist zwanzig Jahre Kapellmeister, später GMD war, noch nie!
Wohl weil es erst später ins Programm gekommen war, gab es Richard Wagners Tannhäuser-Vorspiel nach der Alpensinfonie. Aber Ende und Anfang lagen ohnehin nah zusammen, also nahmen es wohl viele als angekündigte und programmierte Zugabe – Berlin scheint sich auf den neuen GMD zu freuen.
14. Juli 2024, Wolfram Quellmalz
Alle Termine unter: