Parsifal – Held (?) in drei Ebenen

Bayreuther Inszenierung im zweiten Jahr

Vor einem Jahr feierte Richard Wagners »Parsifal« bei den Bayreuther Festspielen in der Regie von Jay Scheib Premiere. Am vergangenen Sonnabend hatten wir Gelegenheit, das Stück in der diesjährigen Aufführungsserie der Festspiele zu besuchen und konnten dabei eine AR-Brille (augmented reality) benutzen, die dem realen Bühnenbild virtuelle Elemente hinzufügt.

AR-BRILLEN

Die Nachricht, eine Operninszenierung bei den Bayreuther Festspielen mit AR auszustatten, überraschte vor zwei Jahren gleich doppelt. Denn es war – zumindest auf einer großen Theaterbühne – ein Novum, und dann gleich in Bayreuth! (Auf einer kleinen Experimentalbühne des freien Theaters hätte man es eher erwartet.) Allerdings hat nur eine begrenzte Zahl Besucher die Möglichkeit, eine AR-Brille zu benutzen. Abgesehen vom finanziellen Aufwand sind auch die technischen Möglichkeiten begrenzt. Damit das System zuverlässig funktioniert bzw. der visuelle Effekt überzeugend ausfällt, muß der Abstand zur Bühne offenbar ausreichend groß sein – die »Brillenbesucher« jedenfalls saßen ausschließlich in den hinteren Reihen (ab 27).

Kein Coq au Vin: durch die Virtualität von »Parsifal« wimmeln ein Hase und Blutkörperchen, Bild: Bayreuther Festspiele, © Jay Scheib

Die Möglichkeit, eine Vorstellung mit Brille zu besuchen (und zu vergleichen) hat der Rezensent der NMB natürlich genutzt! Zunächst bleibt festzuhalten, daß die Brillen nicht gerade leicht sind, aber deutlich komfortabler als die Modelle vor einigen Jahren, die noch vollkommen geschlossen waren – in der Bayreuther Ausführung hat man kleine Bildschirme / Gläsern einer normalen Brille ähnlich, vor den Augen, die optischen Gläser für Brillenträger werden magnetisch eingeklickt. Man kann also relativ frei schauen, durch beide Gläser hindurch oder unten am Rand ohne AR »vorbeiluntschen«. Die Handhabung ist letztlich einfach; links der Lehne gibt es einen Köcher als Ablage, damit keine Gläser verlorengehen und sich niemand auf die Brille setzt.

DAS STÜCK

Amfortas, der Gralskönig, wurde von Klingsor, den die Gralsgemeinschaft nicht aufnehmen wollte, mit dem heiligen Speer verwundet. Die Wunde heilt nicht, Amfortas siecht dahin, auch ein Balsam von Kundry kann nicht helfen. Da erscheint Parsifal, ein Knabe, der aus Lust am Spiel einen Schwan, ein heiliges Tier!, erlegt hat – ist er der ein »durch Mitleid wissende, reine Tor«? Der Knabe kennt jedoch weder seinen Namen noch seine Herkunft. Parsifal wohnt der Enthüllung des heiligen Grals durch die Ritter und Amfortas‘ Vater Titurel bei. Doch er bleibt davon unberührt – die Gralsritter setzen ihn vor die Tür.

»Parsifal«, 1. Aufzug: ist der »durch Mitleid wissende, reine Tor« angekommen? Kundry (Ekaterina Gubanova), Parsifal (Andreas Schager) und Gurnemanz (Georg Zeppenfeld), Photo: Bayreuther Festspiele, © Enrico Nawrath

Klingsor hat mit seinem Zauberreich eine Gegenwelt zur Gralsburg geschaffen, Zaubermädchen dafür gewonnen und einige der Gralsritter verführt. Auch Kundry kehrt zu ihm zurück. Als Parsifal den Garten betritt, wird er von Rittern angegriffen, die er aber erschlägt. Kundry soll ihn verführen, was ihr aber nicht gelingt. Da ruft sie ihn bei seinem Namen und erzählt ihm seine Geschichte. Blitzartig erkennt Parsifal Amfortas Geschick und seine eigene Bestimmung (zur Rettung) – er wird »welthellsichtig« und flieht. Klingsor schleudert den heiligen Speer nach Parsifal, der jedoch über dessen Kopf verharrt. Parsifal ergreift den Speer und schlägt das Kreuzeszeichen – der Zaubergarten beginnt zu zerfallen.

Jahre sind vergangen. Amfortas möchte sterben. Die letzte Enthüllung des Grals liegt lang zurück, die Gralsritter sind ermattet, Titurel verstorben, Gurnemanz lebt als Einsiedler. Da findet er an einem Karfreitag die ohnmächtige Kundry. Ein Ritter erscheint, den Gurnemanz bittet, an diesem heiligen Tag Waffen und Rüstung abzulegen. Als dies geschehen ist, erkennt er Parsifal. Gurnemanz krönt Parsifal zum neuen Gralskönig. Parsifal vollendet seine Mission und verschließt mit dem heiligen Speer Amfortas‘ Wunde. Dann enthüllt er endlich (letztmalig) den Gral. Kundry sinkt entseelt (oder schlafend) zu Boden, und eine weiße Taube erscheint, ein Zeichen göttlicher Gnade.

DIE INSZENIERUNG / AR-WELT

Regisseur Jay Scheib und sein Team (Bühne: Mimi Lien, Kostüme: Meentje Nielsen, Licht: Rainer Casper sowie Joshua Higgason für Video und AR) haben eine mythische Welt geschaffen, die mit einer futuristisch an einem Obelisken gelegenen Gralsburg beginnt. Von den modernen, metallisch glatten Flächen bleibt am Ende kaum mehr als ein Lager, das einer abgewirtschafteten Goldmine gleicht – apokalyptisch! Dazwischen scheint Klingsors Zaubergarten übernatürlich bunt.

»Parsifal«, 2. Aufzug: verführerischer Zaubergarten: Klingsor (Jordan Shanahan), Kundry (Ekaterina Gubanova), Klingsors Zaubermädchen (Margaret Plummer, Evelin Novak, Flurina Stucki, Catalina Bertucci, Betsy Horne, Marie Henriette Reinhold) Parsifal (Andreas Schager), Chor der Bayreuther Festspiele, Photo: Bayreuther Festspiele, © Enrico Nawrath

Die AR-Brille verblüfft zunächst, weil es tatsächlich gelingt, aus Bühne und Virtualität ein Bild zu schaffen. Wer in der Reihe vor sich einen Besucher hat, dessen Kopf den vorderen Bühnenrand verdeckt, der erfährt durch die eingestreuten Funken, Insekten und Bilder eine Art Vervollständigung des nicht sichtbaren Bereiches. Auf der anderen Seite ist es nicht zuletzt anstrengend, dem sich oft wandelnden AR-Geschehen zu folgen. Manches ist illustrativ ohne höheren Wert, und man muß lernen, dies zu unterscheiden, denn es lenkt durchaus ab, wohlgemerkt nicht von der Musik oder dem eigentlichen Geschehen, aber vom Ablauf auf der Bühne. Gerade kleine Szenen, wie das Auftreten von Nebenfiguren, verpaßt man leicht!

Zum AR-Kontext gehört eine Art Klimawandel: Während zunächst alles ringsum (die Brillen zeigen auch seitlich, unten bzw. zwischen den Sitzreihen und oben ein Bild, also weit über die Bühne hinaus), in Eis erstarrt ist (1. Aufzug), beginnt allmählich eine Schmelze in lebenspendendes Wasser. Am Ende ist der Untergrund der Virtualität öd und leer – eine Wüste. Freilich passiert in allen Aufzügen sehr viel. Und da wiederum zeigt sich manchmal die AR-Welt reizvoller als das, was zusätzlich per Video auf die Bühne projiziert wird (Liebesszene von Kundry und Klingsor, Tötung des Schwans). Wobei der Schwan ebenso durch die Brille – gleich mehrfach – blutspritzend getroffen wird. Im dritten Aufzug dann beginnen die Figuren der AR-Welt, sich gegenseitig zu durchdringen – der im Sand sitzende Fuchs wird mehrfach von einer recht kitschigen ausgefallenen Linie durchfahren – etwas unglücklich. Dafür gelingen Joshua Higgason im zweiten Aufzug als Extraillustration zu Klingsors Zaubergarten die phantastischsten Kreationen: Figuren, die statt Köpfen, Händen und Füßen Blüten tragen, eine orangene Kugel, bei der man nicht weiß, ob sie vom Confiseur (Eiskugel) oder vom Floristen (Früchtearangement mit Apfelsine) kommt. Darin sitzt ein Schwan. Ein Auge schaut, von Dornenranken umkränzt, ein Schaf weidet friedlich … Zur Effektekiste der Virtualität gehört, daß sie Nebel oder diffuse Farbschleier enthält, womit die reale Bühne, etwa bei Umbauten, fast gänzlich verdeckt wird, das ist schon großartig!

»Parsifal«, 3. Aufzug: Gralsburg im Aufschwung? 4. Knappe (Matthew Newlin, hinten links), Amfortas (Derek Welton), 3. Knappe (Jorge Rodríguez-Norton, vorn rechts), Chor der Bayreuther Festspiele, Photo: Bayreuther Festspiele, © Enrico Nawrath

Die Gralsburg wird durch unter anderem einen zentralen Strahlenkranz, der nach Parsifals Inthronisierung am Ende aus dem Wasser geborgen wird, symbolisch reich ausgestattet. Das Podest, auf das man den alten König Titurel bettet, hat bereits die Form eines Sarges. Dennoch scheint das Ende arg hoffnungslos, was auch die erlösende Taube und die sich in vitaleres Grün wandelnde Farbe kaum ändern. (Dabei erzählt doch Lohengrin später einmal von seinem »Vater Parsifal«, der »eine Krone« trage? Also müßte es doch mit Parsifal zu einem Aufschwung kommen, eine Blüte bevorstehen. Solcher Hoffnungsschimmer glimmt bei Jay Scheib jedoch arg glanzlos.)

DIE AUFFÜHRUNG

All das bietet reichlich Stoff zur Interpretation und zur Diskussion, wie denn dieser Parsifal besser zu erleben sei – mit oder ohne Brille. Musikalisch gab es an diesem 17. August klare Favoriten: der Dirigent, der Chor, Gurnemanz.

Pablo Heras-Casado, der für viele vor allem mit der Alten Musik verbunden ist, kam durchaus schon mit Wagner-Erfahrung nach Bayreuth. In Madrid dirigierte er einen »Ring«, an der MET Verdi. Sein Parsifal-Gefühl überzeugt von der ersten Note an. Vielleicht nicht jeden im Geschmack, seine getragenen Tempi sind manchem zu gedehnt, jedoch gelingt es ihm, einen Spannungsbogen vom Beginn bis zum Ende aufzubauen und an den entscheidenden Stellen noch zu überhöhen. Darüber hinaus ist er in der Lage, die Sänger und den Chor zu stützen. Soli der Sänger sind ebensogut eingebettet wie die Instrumentalisten, die plötzlich und teilweise wundersam ihr Englischhorn oder Violoncello hervortreten lassen – auch das sind ganz wunderbare Wagner-Momente!

»Parsifal«, 3. Aufzug: Aussprache zwischen Parsifal (Andreas Schager) und Kundry (Ekaterina Gubanova), Photo: Bayreuther Festspiele, © Enrico Nawrath

Unter den Sängern begeistert zuvörderst der geteilte Chor (Einstudierung: Eberhard Friedrich) im ersten Aufzug. Während die Männer als Gralsritter in der Burg sind, gegen die Frauenstimmen von draußen (bzw. hinten) eine Antwort – das sorgt für Gänsehaut! Allerdings fällt der Chor wohl im dritten Aufzug einem apokalyptischen Kraftstoß zum Opfer, denn hier schreit er nicht nur, er brüllt, wobei immer noch die Homogenität und Verständlichkeit beeindruckt.

Georg Zeppenfeld als Gurnemanz, der nach Anteilen ohnehin die Hauptfigur ist (wenn auch nicht der Held), prägt der Figur zwar seine unverwechselbare Stimme auf, verleiht ihr aber eine individuelle Menschlichkeit. Statt der Sonorität, die Zeppenfeld so leicht ausstrahlt, treten Fragilität, Unsicherheit, Zweifel in den Vordergrund, immer aber bleibt Gurnemanz ein Stratege mit Übersicht. Andreas Schager (Parsifal) und Ekaterina Gubanova (Kundry) überzeugen mit stimmlicher Kraft und solcher im Ausdruck, wobei gerade Ekaterina Gubanova allerdings in der Verständlichkeit zurückbleibt. Auch ist ihre Kundry, immerhin doch eine Verführerin, vergleichsweise unsinnlich. Dagegen scheint Andreas Schager mit Parsifal in seinem Element (von Alter Ego möchte man nicht sprechen). Daß die »Pferde« manchmal mit ihm »durchgehen«, kennt man. Die beiden Passagen »Der Speer nur, der die Wunde schlug« sind schlicht überdimensioniert und nicht kultiviert. Doch das ist Andreas Schager, der aus solchem Übermut und »Dampf« die Persönlichkeit entwickelt und ihr von seiner Kraft gibt. Solche brauchen auch Derek Welton (Amfortas) und Tobias Kehrer (Titurel), die als kranke, sieche, geschwächte Herrscher noch entscheidende Impulse setzen müssen – was ihnen bemerkenswert gelingt. Jordan Shanahan als Klingsor liefert eine solide Leistung ab, doch fehlt der Figur ein wenig die Raffinesse des bösen Zauberers und jene Kraft, die Rache so gefährlich macht. Solide Leistung also ringsum, aber so richtig strahlt der Held am Ende nicht, oder liegt es doch an der Inszenierung?

19. August 2024, Wolfram Quellmalz

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