»Kennst Du das Land, wo die Optionen blühn?« in der Serkowitzer Volksoper
Die Serkowitzer Volksoper in der Sommerwirtschaft Saloppe gehört fest in unseren Kalender. In den letzten Jahren amüsierten wir uns bei Stücken wie »Diener dreier Herren«, »Dafne auf Naxos« oder »Böser Clown«. Oft trafen sich bisher Werke oder Figuren, die sonst nicht gemeinsam auf der Bühne standen, wie Mozarts bzw. Da Pontes Don Giovanni und Goldonis Truffaldino, Schütz‘ Dafne und Strauss‘ Ariadne [NMB berichteten]. Mit »Kennst Du das Land, wo die Optionen blühn?« ging die Serkowitzer Volksoper nun einen anderen Weg, fügte nicht (auch zeitlich verschiedene) unterschiedliche Texte in einander, sondern schuf aus fünf von ihnen (bzw. Fragmenten) fünf Episoden, fünf Solorollen für Cornelius Uhle, Dorothea Wagner, Marie Hänsel, Julia Böhme und Wolf-Dieter Gööck. Texte des Autors Erich Kästner führten ebenso in seine Zeit wie in unsere – es durfte diesmal also nachdenklicher werden. Die fünf Einzelschicksale zeichneten Menschen, die Grund haben, innezuhalten, umzukehren, aufzugeben, wegzulaufen oder – Schluß zu machen.

Leider machten uns der Terminkalender und das Wetter diesmal einen Strich durch die Rechnung. Denn zunächst fanden wir zur Premiere und ersten Aufführungsserie keinen freien Tag. Macht nichts – es gab ja noch Vorstellungen im August. Am Sonntag (frisch von den Bayreuther Festspielen zurückgekehrt), waren wir da. Nachmittags hatte es bereits stark geregnet, doch in der Saloppe ist man mit Dach und Erfahrung gut gerüstet. Was jedoch vier Stunden noch geklappt hatte, sollte am Abend nicht mehr möglich sein. Ein Sturzbach und eine durch Wasser beschädigte Anlage ließ letztlich schon aus Sicherheitsgründen keine andere Möglichkeit zu, als die Aufführung abzukürzen und nach der Pause abzubrechen. Wir erlebten daher nur drei von fünf Episoden sowie den Epilog.
Kästners Texte wandeln zwischen Fragilität und Realität, Zukunftspessimismus und Aufbruchstimmung, Naivität und Pragmatik – was die Charaktere wie Erzählstücke verbindet, ist die Erkenntnis, daß ein Aufbruch(sversuch) immer lohnt: »Etwas Besseres als den Tod findest Du überall«, resümierte Kästner. Lakonisch?

Die Ausdeutung birgt einen großen Reiz. Schließlich liegen uns die Texte nur geschrieben vor – schon wer dazu Kästners Stimme als Vorleser imaginiert, beginnt ja mit der Interpretation. So erzählte Cornelius Uhle alias Dalg, wie er jahrelang in einem grauen Haus in einer grauen Stadt als Fabrikarbeiter lebte, bis er entlassen und Straßenmusikant wurde. Die Frau ist ihm verstorben, statt dessen liegen ihm die Tochter und der Schwiegersohn »auf der Tasche«. Da beschließt er, auszuziehen …

Das Mädchen Paula (Dorothea Wagner) hat keine normalen Füße, sondern Wurzeln, weshalb es seinen Platz nicht verlassen kann. Es wird zur Attraktion der Umgebung sowie der Presse (solange es sich als Sensation verkaufen läßt). Es ist abhängig von der Familie, die aber wegen des Geldes Hilfe, Paulas Situation zu ändern, gar nicht annehmen will. Paula kann gut malen. Einen Platz der Stadt, um die Ecke gelegen, hat sie gemalt, aber noch nie im Original gesehen. Da ruft ihr jemand zu, fragt sie, ob sie sich die Wurzel nicht selbst ausreißen könnte …
Noch ärger ist es mit dem kleinen Fritz (Marie Hänsel), einem frohgemuten Berliner Jungen. Er hat Geld gesammelt, um die Operation seiner Mutter zu bezahlen, fährt in die große Stadt, zur Klinik, wo er die Mutter besuchen und dem Arzt das Geld geben will. Was Fritz noch nicht weiß: die Mutter ist an ihrer Krankheit (oder der Operation) gestorben. Nun steht er allein da …

Ein Stadtmusikant, der aufbricht – kennen wir das nicht? In der Tat versammeln sich hier nach und nach vier Menschen, welche die Rollen oder Position von Esel, Hund, Katze und Hahn bei den Bremer Stadtmusikanten übernehmen und ausziehen. Anders als bei den (Ge)brüdern Grimm kommt schließlich aber eine fünfte Person hinzu: Krügel (Wolf-Dieter Gööck), auf dessen Einzelauftritt wir aber, wie auf jenen von Julia Böhme (Mia), wetterbedingt verzichten mußten.
(K)ein bißchen Komödie also diesmal, und trotzdem unterhaltsam! Denn Kästners Satire geht unter die Haut und ans Herz, weiß aber auch, nicht alles allzu schwer zu nehmen. Und hier haben die erfinderischen Serkowitzer um Wolf-Dieter Gööck und Milko Kersten von der Begleitband Musi nad labem wieder ebensoviel Findungsgeschick bewiesen. Obwohl diesmal kein bekannter Opernstoff als Vorlage diente, machten sie doch reichlich Musik in Kästners Zeit aus. Paul Aron, Rosy Wertheim und Emmerich Kálmán mischten sich darunter, oder Hermann Leopoldi (wenn man alles hört. Mit anderen Worten: Operettenschlager und Chansons, die aber um Ausflüge zu Mendelssohn, Wagner oder Carl Heinrich Graun bereichert wurden (wobei »jeder« nicht ganz korrekt ist, denn die Gesangskünste von Wolf-Dieter Gööck haben wir ja nicht erlebt, während Julia Böhme schon aufgrund früherer Auftritte über jeden Zweifel erhaben ist). Selbst vor Dave Brubeck und Pink Floyd Doch »schreckte« die Serkowitzer Volksoper nicht zurück. Mehr noch: Musi nad labem traten nicht nur mit Seemannspullovern und -mützen auf, sondern dienten der Vorstellung auch als Chor. Ein paar Shantys oder »Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern« hätten an diesem wasserreichen Tag durchaus gepaßt …

Wie schade, daß uns zwei der Geschichten verlorengingen, die Moral jedoch blieb: es lohnt, ein Wagnis einzugehen, aufzubrechen, statt aufzugeben.
Am Montag fand bereits die Dernière von »Kennst Du das Land, wo die Optionen blühn?« statt. Doch im nächsten Jahr gibt es sicher ein neues Stück. Und meist findet die Serkowitzer Volksoper auch etwas für ihr Winterquartier.
21. August 2024, Wolfram Quellmalz