Blau der Vergangenheit, blau der Gegenwart

Dresdner Uraufführung des Heinrich Schütz Musikfestes

Am vergangenen Freitag hatte das Heinrich Schütz Musikfest (HSM) mit einer Uraufführung und den Residenzkünstlern in der Weißenfelser St. Marienkirche begonnen, am Sonntag war das Werk mit Ælbgut und Continuum noch einmal in der Dresdner Dreikönigskirche zu erleben. »Tiefhoffnungsblau« ist ein Auftragswerk des Festes an Annette Schlünz. Schon einmal war ein Werk der Komponistin im Rahmen des HSM in der Dreikönigskirche erklungen: 2020 hatte sie eigene Texte sowie Fragmente Sapphos in Musik gefaßt und zwischen Sätze von Schütz, Gabrieli und Gesualdo gesetzt. Auch Martin Wistinghausen hatte sich 2022 (Barock.Musik.Fest) bei der Komposition von »Bedrängte Zeit, vergeh!« für ein Verfahren entschieden, das solche Brücken zwischen der damaligen und unserer Zeit baut. Die entstandenen Werke haben oft einen symbiotischen Charakter, das heißt die neuen Teile, Intarsien oder Gegenstücke stehen mit ihren Vorgänger in direkter Korrespondenz und sind nicht dafür gedacht, allein aufgeführt zu werden. Annette Schlünz ging diesmal noch etwas konziser vor und betonte im Vorgespräch das »Miteinander« ihrer Musik mit der von Heinrich Schütz. Die neu entstandenen Teile für »Tiefhoffnungsblau« sind also keine »Gegenstücke«.

Tiefhoffnungsblau wörtlich genommen, Photo: HSM, © Robert Jentzsch

Die Texte kamen diesmal von der Dichterin Ulrike Schuster. Zunächst war aus den Symphoniae sacrae III von Heinrich Schütz, 1650 in Dresden erschienen, eine Auswahl getroffen worden. Teils orientierte die sich pragmatisch an den zur Verfügung stehenden Stimmen – die Residenzkünstler von Ælbgut waren zu fünft. Die wichtigere Feinauswahl entschied letztlich über die genauen Texte und ihre Reihenfolge. So hatte sich HSM-Intendantin Christina Siegfried gewünscht, daß »Feget den alten Sauerteig aus« (SWV 404) enthalten sei. Es steht am Ende des Werkes und bildet das Fundament für den dort formulierten Neubeginn.

Aus allen Texten gewann Annette Schlünz wesentliche Gedanken für neue Texte, die unsere Zeit spiegeln. Manches scheint »wiederzukehren«, ist aber doch ganz anders, denkt man zum Beispiel an Schütz‘ Situation im Dreißigjährigen Krieg. Solch direktes Erleben gibt es für uns nicht, dennoch spüren wir die vielen Krisen um uns herum. Und die Hoffnung – das Wort »Tiefhoffnungsblau«, es taucht mehrfach im neuen Text auf, ist ebenso ein (emotionaler?) Gewinn aus den Symphoniae sacrae III.

Ælbgut (mit Isabell Schicketanz links) und dem Ensemble Continuum in der Dreikönigskirche Dresden, Photo: HSM, © Robert Jentzsch

Kein Wunder also, daß Annette Schlünz‘ Musik, die aus den Texten der Dichterin wuchs, nicht nur neu ist, sondern ganz anders. Oft spröde, manchmal atonal oder disharmonisch, fügt sie sich doch ein, steht nicht nur gegenüber. Wieder fällt auf: Zu Schütz‘ Zeiten vermittelten sich Inhalte und Musik unmittelbarer, lebten von Affekten und richteten sich an »das Herz«. Die zeitgenössische Musik dagegen will erkannt, erobert werden, spricht den Intellekt an. Doch in diesem Fall wehrte sie sich nicht, wurde leicht erfahrbar und fand zu teilweise erstaunlicher Harmonie mit Schütz (Teil IV, »Es ging ein Sämann aus zu säen«) oder gar einer Symbiose. Im zweiten Teil waren der alte Text »Mein Sohn, warum hast du uns das getan« und Schütz direkt und eng mit »Wie nicht irren« (neu) verwoben. Dennoch fiel auf: der Ausdruck größter Freude, das »Hosianna« und »Alleluja«, jubelt bei Schütz, Ulrike Schusters und Annette Schlünz‘ »Tiefhoffnungsblau« ist innerlicher, ihr Schlußwort »Sei Beginn! Wage!« ist (wieder) ein Appell an das Bewußtsein. Fragen, ob sich zum Beispiel unsere moralische Instanz vom Empfinden (Schütz) zum (kalkulierten?) Abwägen (heute) verlagert hat, darf man aus so einem Konzert gerne mitnehmen.

Denn was dem Publikum präsentiert wurde, war kein unnahbares, schwer verständliches Werk, sondern durch dichte Stimmverflechtungen gefühlvoll und sinnlich erfahrbare neue Musik. Oder ein »Spiegel«, eben eine Brücke von Heinrich Schütz zu uns. Das Ensemble Ælbgut war in den Entstehungsprozeß früh eingebunden und beteiligt, daher konnte es zwei kurzfristige Umbesetzungen ohne Nachteil vollziehen. Isabel (Sopran) und Martin Schicketanz (Baß) gehören zum »Stamm« von Ælbgut und hatten diesmal Christopher Renz als Tenor gewonnen. Wir kennen ihn als Evangelisten oder von Polyharmonique aus anderen Aufführungen. In Ælbgut gliederte er sich mit klarer Diktion und feiner Betonung ein. Joowon Chung (Sopran) und Jaro Kirchgessner (Alt) fanden ebenso leicht ins Quintett, wobei gerade mit Jaro Kirchgessner die Stimmvielfalt zunahm – manche Texte wurden gesprochen, beim Altus fiel natürlich der Unterschied von Brust- (sprechen) und Kopfstimme (singen) besonders auf. Isabell und Martin Schicketanz übernahmen spürbar die Führung unter den Sängern und sorgten für eine gewinnend sinnliche Ausleuchtung.

Martin Schicketanz (Baß) als zentrale Figur bei Ælbgut, rechts: Christopher Renz, Photo: HSM, © Robert Jentzsch

Continuum um Jesús Merino Ruiz (Violine) begleitete als Ensemble äußerst feinfühlig. Mit Schlagwerk, Zink, Dulzian und Posaunen konnte es viele Farben unterstreichen, blieb oft jedoch im Basso continuo Schütz‘ oder in den Silbenbetonungen Schlünz‘. Konzertierende Soli gab es kaum, aber die brauchte es auch nicht: bei Schütz konnten schon einzelne Akkorde berühren, bei Schuster und Schlünz wurden nicht lose Worte, sondern Gedanken herausgefiltert und fokussiert. Die Radioübertragung ist leider nicht in der Audiothek verfügbar, aber vielleicht gibt es ja eine Wiederaufführung.

7. Oktober 2024, Wolfram Quellmalz

http://www.schuetz-musikfest.de/

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