Kammerkonzert im Gewandhaus dehnt die Zeit der Gambe bis in die Romantik
Das Gewandhaus zu Leipzig pflegt nicht allein die Musik und deren Tradition, es greift auch die Rezeptionsgeschichte auf, was sich im »Historischen Concert« ebenso erleben wie in Programmhefttexten nachlesen läßt. Gestern gab es im Rahmen der Kammerkonzerte am Sonntag einen besonderen Rückblick, als Thomas Fritzsch (Viola da gamba), Katharina Dargel (Viola d’amore) und Michael Schönheit (Tasteninstrumente) des 99. Todestages von Paul de Wit gedachten. Der Cellist oder »Jäger und Händler, Spieler und Sammler«, wie das Programmheft titelte, gehörte einst zu Leipzigs aktivsten wie skurrilsten Musikteilnehmern. Dabei trat Paul de Wit (1852 bis 1925) als Herausgeber ebenso in Erscheinung wie mit seinen Instrumente- und Musikaliensammlungen. Außerdem hatte er sich einer frühen Form der Alte-Musik-Praxis verschrieben, die sich freilich teils stark von dem unterscheidet, was wir heute, da die Originalklangensembles und -experten (noch?) eine Blütezeit dokumentieren, kennen.
Dazu zählt, daß Paul de Wit bei den gesammelten Instrumenten Wert drauf legte, daß diese spielbar seien, was allerdings manche Eingriffe in die historische Substanz bedingte, wie ein Bild zeigt, auf dem er eine historische Viola da gamba spielt, die mit einem Stachel (!)nachgerüstet wurde.

Insofern waren Aufgeschlossenheit oder mögliche Befremdliche Gefühle vorab »programmiert«, denn im Erinnerungskonzert gestern standen nicht nur Werke des 17. Jahrhunderts auf dem Programm (bei denen es sich bereits um spätere Bearbeitungen gehandelt hat), sondern zudem neuere Stücke bis in die Romantik. Teils Bearbeitungen oder – als absolute Kuriosität – ein spät entstandenes Originalwerk für eine historische Besetzung. Denn Paul de Wit hatte die Gamben, speziell die Viola da gamba, geliebt und sogar Neukompositionen für historische Besetzungen angeregt. Doch der Rezensent erinnert sich eines Gespräches mit der jüngst verstorbenen Sopranistin Wilfride Günschel, bei dem sie ihm erzählte, wie sie – in Ermangelung eines Klaviers – Schubert-Lieder am Cembalo eingeübt habe.
Die ersten als Suite gebundenen Sätze, eine »Idylle« von Marin Marais, ein Adagio Giuseppe Tartinis (Adagio cantabile G-Dur B. G19) und Antonio Lottis Konzertarie »Pur dicesti, o bocca bella« paßten letztlich ins Erinnerungsbild und stammten von zeitgenössischen Bearbeitern, mit denen Paul de Wit bekannt war. Nicht wenige der im Konzert präsentierten Sätze hatte der eifrige Sammler nachweislich sogar selbst gespielt. Hugo Becker oder Walter Schulz richteten die Fassungen für die barocke Instrumentierung ein, auch Leo Schulz – Fußnote: Leo Schulz, Cellist des damaligen Gewandhausorchesters, ging mit Arthur Nikisch später zum Boston Symphony Orchestra, das sich heute nicht nur den Chefdirigenten mit dem Gewandhausorchester teilt, sondern ein Kooperationspartner geworden ist.
Marais zu Beginn war eine gediegene, geschmeidige Einleitung, die – noch mit Cembalobegleitung – die Ohren sensibilisierte. Ja, die Gambe ist eben leiser, das fällt im Mendelssohnsaal durchaus auf! Mit Alessandro Stradellas Kirchenarie »Pietà, Signore« blieb der Kreis der Musik zunächst geschlossen, während der Musikkenner, besonders der Klavierfreund, aber spätestens beim Nocturne B-Dur (H 37A) von John Field fast aufschreckte. Franz Xaver Chwatals Introduction et Variations amusantes sur l’air très favori (Einleitung und Variationen über das Lied »Was soll ich in der Fremde thun«) – weder der Komponist noch das Stück sind bekannt – setzte zunächst einen vorläufigen Schlußpunkt.
Doch die Spannung, zumindest war »originäre Musik« angeht, ging nach und nach verloren. Im zweiten Konzertteil überwog gar der Eindruck des beliebigen. Es sei denn, man öffnete die Ohren für die teils kuriosen Bearbeitungen (»Curios, ich wüßte nicht, warum nicht?« schrieb Mozart in seinem Brief an sein »Bäsle« am 5. November 1777 gleich mehrfach – freilich ging es nicht um Paul de Wits Bearbeitungen). Ungewöhnlich, ja kurios kann man Ermanno Wolf-Ferraris Originalkomposition (!) Duo für Viola d’amore und Viola da gamba g-Moll (Serenata Opus 33) nennen. War schon zuvor mehrfach der Eindruck eines Liedes ohne Worte entstanden (nicht nur in den Arien, sondern weil das Tasteninstrument oft die Melodiestimme an die Gambe abgegeben hatte), setzte sich dies mit Felix Mendelssohn (»Wartend« Opus 9 Nr. 3 und Lied ohne Worte E-Dur, Opus 30 Nr. 3) Robert Schumann (»Abendlied« Opus 85 Nr. 12) und Franz Liszt (Consolation Des-Dur, S 172 Nr. 4) fort. Spielerisch war das ohne Tadel, doch Puristen stellten sich hier und da ein wenig die Nackenhaare auf – Geschmackssache (?).
21. Oktober 2024, Wolfram Quellmalz