Iberisches Liederbuch erklang im Vzlet Prag
An den europäischen Höfen wurde nicht nur Musik geschaffen, sie wurde hier auch gesammelt. Je nach Region und »Pfad«, ob nun Handelsweg, Seebrücke oder tatsächlich Pilgerpfad, machten sich überregionale, sogar außereuropäische Einflüsse bemerkbar und wurden verbreitet. Die Maschen im Netzwerk der Höfe waren jedoch unterschiedlich dicht, die Pfade verschieden breit bzw. ausgetreten. Während uns vieles aus Italien incl. der über den Mittelmeerraum zugewonnenen Einflüsse heute vertraut ist, gibt es anderes noch zu entdecken. Das gilt auch für die ebenso im Süden Europas gelegene Iberische Halbinsel. Alfons bzw. Alfonso X. (1221 bis 1284), genannt «der Weise«, König von Kastilien und Léon, außerdem Deutscher Kaiser von 1257 bis 1273, trug an seinem Hof eine ganze Reihe von Musik zusammen. (Die Sammlung wurde nach Alfonsos Tod noch bis ins 15. Jahrhundert fortgesetzt.) Darunter befinden sich allein an die 400 der Jungfrau Maria gewidmeten Lieder. Gestern erklang eine Auswahl davon im Prager Kulturzentrum Vzlet mit zwei Sopranistinnen, die wir vom Collegium 1704 kennen, sowie zwei musizierenden Gästen.
Hana Blažíková und Barbora Kabátková sind uns in ihren Rollen als Sängerinnen wohlbekannt, hier nun spielten sie – wie s damals üblich war, dazu mittelalterliche Harfen. Jene von Hana Blažíková war aus einem Rahmen bzw. dem eigentliche Instrument und einem Fußteil zusammengesetzt – damals waren viele Sänger mit der Harfe auf der Schulter auf Reisen und sangen und spielten stehend. Ihnen zur Seite standen bzw. saßen Margit Übellacker mit einem Hackbrett (worauf sie Expertin ist) und Martin Novák, der mit verschiedenen Glöckchen, Tamburins und Trommeln für den Rhythmus sorgte oder eine Dramaturgie unterstrich.

Die meisten der Lieder hatten einen ruhigen, innigen Charakter – was angesichts des Themas bzw. der im Mittelpunkt stehenden Person nicht verwundert. Dabei offenbarten manche deutlich einen orientalischen oder sephardischen Einfluß. Ursprünglich meist einstimmig, hatten Hana Blažíková und Barbora Kabátková aber auch einige jener Lieder ausgewählt, in denen sich zwei Stimmen gegenüberstanden. Manchmal verschmolzen geradezu symbiotisch! Obwohl man charakteristische Unterschiede ausmachen konnte, Hana Blažíková ein wenig mehr Brillanz hervorhob, einen Hauch mehr Schärfe aufbot, Barbora Kabátkovás Sopran der weichere, schmiegsamere war, fanden beide doch zu einem nahezu perfekten Einklang.
Für die ruhigen Titel hätte man sich vielleicht eine Kirche oder Kapelle mit dem typischen Nachhall als Raum gewünscht, so wie bei »Qen bõa dona querrá« (Ein Marienlobgesang, Nr. 160 der Sammlung), mit dem die vier Musiker in den Saal einzogen. Das Gleichmaß der Soprane war teils verblüffend, ihr Gegenüber sorgte für eine feine Differenzierung statt großer Dramatik (wiederum dem Hinwendungspunkt gemäß).

Verblüffend waren auch die Tonfärbungen, die Margit Übellacker allein mit ihren Hämmerchen und variablem Tempo bzw. Kraft hervorbrachte, schließlich ist ihr Instrument noch nicht so komplex, daß es über Register oder Dämpfer verfügen würde. Martin Novák vollführte seine Vielfalt durch unterschiedliche Schlagwerke und Glöckchen. Die letzteren, nur einmal jeweils am Versende geschlagen, genügten oft, betonten einen den Liedern teils innewohnenden Gebetsrhythmus. Mit vier instrumentalen Zwischenspielen sowie den Übergängen sorgten alle Spieler zusätzlich für Abwechslung.

Trotz »leiser« Töne mußte man auf eine ausgefeilte Dramaturgie nicht ganz verzichten. »Virgen Madre groriosa« (Nr. 340) war ein einprägsames Beispiel dafür, wie sich der Lied- bzw. Erzählstrom veränderte, anschwoll oder lichter wurde, dabei einerseits den Textfluß »regelte«, aber eben auch für eine dezidierte Betonung sorgte. Trotzdem wiederholten sich manche »Rezepturen« von Instrumentation und Vortrag natürlich in den knapp zwei Stunden – ursprünglich waren die Lieder schließlich für einzelne Vorträge in der Andacht und nicht für ein Konzert vorgesehen.
24. Oktober 2024, Wolfram Quellmalz
Im nächsten Konzert der Reihe heißt es am 28. November »Frucht der Liebe«. Julie Braná (Leitung und Flöte), Edita Keglerová (Cembalo), Hana Fleková (Violoncello) und Jan Krejča (Theorbe) spielen dann Werke von William Byrd, Georg Philipp Telemann und Nicola Termöhlen.