Finn Job »Damenschach«
Was bitte ist »Damenschach«? Eine indonesische Variante des Brettspiels, wie wir es kennen, bei dem aber die Dame den höchsten Wert hat? Oder gibt es – wie im Frauenfußball – Schach auch als Sportart nur für Frauen? Wobei das noch nicht die »Damen« erklären würde. Vielleicht müssen Damen beim Schach Seidenhandschuhe, Crêpekleider und den Familienschmuck tragen?
Tatsächlich handelt es sich um das zweitere – eine reine Damenrunde. Marie-Louise ist für den nächsten Tag zum »Damenschach« verabredet. Doch bevor sie sich morgen (vielleicht) auf den Weg macht, feiert Marie-Louise heute noch Geburtstag. Es ist ihr fünfzigster und sie beginnt ihn mit einer Flasche Champagner.
Leseprobe:
Dein Blick spurt im Nebel. Sieh dich nicht um. Kaffee, Musik, Fokus und Zerstreuung! Rameau vielleicht oder Mozart, etwas Heiteres, das ordnet. Aber zunächst Kaffee – nein, Espresso, denn Espresso ist Kaffee in Abstraktion, und Marie-Louise ist heute nach Abstraktion.
So weit, so gut, aber alles wird immer schlimmer, findet zumindest Marie-Louise: »Alles wurde schlimmer, als die Frauen keine Männer mehr sein wollten. Alles wurde schlimmer, als niemand mehr bereit war, Verantwortung zu übernehmen, da unversehens alle verantwortlich waren«. Der Geburtstag beginnt bereits grau, langsam scheint sich der Himmel auf das Haus zu legen, Nebel und Schneeflocken beginnen, »die Burg«, wie das Haus genannt wird, von der Außenwelt zu trennen. Doch eine Außenwelt braucht Marie-Louise gar nicht mehr, denn sie bekommt ja Besuch.
Einen Verehrer (oder war es nur ein One-Night-Stand?) läßt sie kalt an der Sprechanlage abblitzen, David jedoch, ein Psychiater und alter Freund, ist willkommen, auch wenn niemand weiß, ob er etwas von Marie-Louise will oder sie von ihm und wenn ja, ob das gut wäre. David erscheint pünktlich und wie erwartet mit Chrysanthemen und einer frischen Flasche Champagner. Wie gut, daß Ivana, die belesene Haushälterin, zuvor noch ein Frühstück bereitet hatte. Wenigstens Palatschinken mit Marillenmarmelade – als sie später losfährt, aber keinen Hummer fürs Geburtstagsessen bekommt, läßt sie das Kochen (bis auf eine Omelette) sein. Es wird sowieso mehr getrunken, Champagner, später Grappa, bevor eine neue Flasche Champagner geöffnet wird, für zwischendurch weiß Ivana, wo der Sliwowitz steht …
Doch sie hatten viel getrunken und festgestellt, dass sie beide bereits im Alter von vierzehn Jahren das Gesamtwerk von Thomas Mann gelesen hatten, dass sie Thomas Mann seitdem nicht mehr anfassen konnten, dass sie ihn nicht ertrugen und dass doch alles mit ihm verbunden geblieben war – dass sie Thomas Mann nicht mehr entkommen würden.
Und dann erscheint Marie-Claire. Zwischen ihr und Marie-Louise gab es schon immer Spannungen, weshalb sich die beiden Zwillingsschwestern seit sechs Jahren nicht mehr gesehen haben – eine lange Zeit! In sechs Jahren kann viel passieren – zum Beispiel kann jemand sein Geschlecht ändern, so wie Marie-Claire, die seit zwei Jahren Marius heißt. Der erfolgreiche Galerist erscheint mit seiner jungen Geliebten Olivia, Engländerin, Kulturhistorikerin und Cineastin.
Belesen und gebildet sind sie alle, selbst Ivana weiß, ob und warum Alpenkrähen hier selten sind, welche Figur der Commedia dell’arte welchem Besucher entspricht, Filme, Reportagen und Bücher scheint sie zu verschlingen. Und ist sie nicht weit besser in Lebenserfahrung und Psychologie als Dr. David Hofer?
»Olivia meinte, dass sie es leid sei, in der Farce zu leben.« David steckt sich eine Zigarette an. »Daraufhin meinte ich, dass ich die Farce der Tragödie vorzöge, weil … weil ich die Tragödie nicht ertrage.«
»Ist es Tragödie, ist es Komödie?« singt Ivana von ihrer Insel herüber.
Marius setzt sich. »Von welcher Tragödie sprecht ihr überhaupt? Geht es um den Kolonialismus?« Er bekommt allmählich Lust auf eine Zigarette.
»Die Tragödie ist, dass … also dass wir uns nicht mehr auf sie einigen können.«
Olivia beachtet ihren Freund derweil noch immer nicht. »I mean … Ich sage doch nur«, fährt sie fort, »dass es kaum etwas gibt, wofür es sich zu kämpfen lohnt – alles ist so kompliziert geworden.«
»Damenschach« hält, was die Figurenkonstellation verspricht. Es spielt mit den Geschlechtern, reizt mit Bildungsbürgerwissen und bindet Familienanalysen ein. Finn Job beherrscht die Kunst, die Spannung zu halten, ohne daß es zur Explosion kommt. Dafür nutzt er gekonnt die Ebenen der Erzählung: Wenn der Streit auf dem Höhepunkt ist, kommentiert der Autor lakonisch: »Marie-Louise findet keinen Dreck unter ihren Nägeln« (die Hausherrin hat sich während des Disputs mit dem Sabriersäbel die Nagelränder gereinigt).
Kein Zweifel: das Buch amüsiert! Auf königlichem Niveau oder zumindest in einer dem Damenschach angemessenen Weise. Einziger Nachteil: Wer es so rasant liest (und an zwei, drei Abenden »durch« ist), fühlt sich ein wenig erschöpft und übernächtigt, so wie Marie-Louise und ihre Gäste, die vierundzwanzig Stunden nicht schlafen, (zu) viel Champagner trinken und zwischendurch nur einmal Pizza bestellen …
November 2024, Wolfram Quellmalz
