»Auf die Dame kommt es an«
Eben hatten wir »Damenschach« (Rezension gestern: https://neuemusikalischeblaetter.com/2024/11/22/spritzig/) entdeckt, da fiel uns beim Schweizer Unionsverlag »Auf die Dame kommt es an« in die Hände. Doch es ist weder eine Fortsetzung von Finn Jobs Roman noch eine Variante desselben Themas, hier geht es mehr und wirklich um Schach. Das steigert sich im Buch sogar, so daß man nach anfänglich nur eingestreuten Zügen am Schachbrett am Ende fast zum Schachexperten wird, denn in den letzten der Geschichten werden Partien oder Teile von Partien in Kurzschrift dargestellt. Dann muß man wissen oder sich (wieder) erarbeiten, was Sg8-f6 (Springer rückt vom Feld g8 auf f6) oder d4xe5 (Bauer von d4 schlägt sein diagonales Gegenüber auf e5) heißt. Emanuel Lasker war – so lange wie bisher niemand wieder – selbst Schachweltmeister (von 1894 bis 1921). In seiner Episode »Leben à la Taubenhaus«, einem Ausschnitt aus der autobiographisch geprägten Schacherzählung »Wie Wanja Meister wurde«, steht das Schachspiel mit konkreten Zügen vielleicht am weitesten im Mittelpunkt. Samuel Beckett hat die Schreibweise in »Endons Offensive« sogar noch verknappt und nennt für die 43 Züge der Partie zwischen dem Wächter Murphy und dem Insassen einer Heilanstalt Endon nur noch den Zielpunkt. Mit e4 (Murphy) und SH6 (Endon) beginnt das Spiel, nach den Zügen Ka5 (Murphy) und Dd8 (Endon) gibt Weiß auf. Beckett gelingt es selbst in diesem Ausschnitt seiner Erzählung, zwischen Personen und in Räumen Spannung und Atmosphäre zu schaffen – Schach wird im Grunde zur Nebensache, wenn auch zur vielleicht wichtigsten. Und sogleich liefert der Autor in Fußnoten zum Spiel Kommentare über Fehler und Reaktionen nach.
Leseprobe:
Nein, Pavels Abschied sollte endgültig sein. Natürlich wusste er um die Schwierigkeit, und er tat, was zu tun war. Er verräumte das Schachbrett, löschte die Links auf seiner Festplatte und brachte die vermaledeiten Bücher zu einem Bekannten. Er ging viel spazieren, es wurde von Tag zu Tag schwieriger. »Aber zumindest wusste ich«, sagte er, »ich war ein Junkie. Ich brauchte ein Methadonprogramm.«
(aus: Ernst Strouhal »In der Nabokovfalle«)
Manchmal bedauert man, daß es nur ein Ausschnitt ist – im geschilderten Falle steigt die Neugier, Becketts ganzen Roman »Murphy« zu lesen. Auch Stefan Zweigs »Revanche« (aus der berühmten »Schachnovelle«) hinterläßt so ein leichtes Mangelgefühl. Andere Erzählungen sind jedoch so konzentriert oder original, also ungekürzt, daß sie ein kurzes, aber vollständiges Lesevergnügen bereiten. Oder man trifft eine bekannte Person in einer bekannten Situation wieder, wie Agatha Christies Monsieur Poirot in »Das Schachproblem«. (Allerdings hat den Rezensenten überrascht, daß Monsieur Poirot und Mr Hastings per Du sind – ein »modernes Zugeständnis«?)
Nicht nur Schachgeschichten, Geschichten von begeisterten Schachspielern sind hier vereint. Die meisten Autoren waren vom Spiel fasziniert, wie Friedrich Dürrenmatt oder Stefan Zweig. Mit Vladimir Nabokov gelingt dem Band sogar ein Brückenschlag, denn dem Ausschnitt aus »Lushins Verteidigung« geht »Die Nabokovfalle« von Ernst Strouhal voraus, die sich direkt auf die anschließende Schachgeschichte bezieht. Dabei schafft es der Schachhistoriker, auf dem knappen Raum weniger Seiten ein Psychogramm (oder eine pathologische Veranlagung?) zu entwerfen – wie bereits am Eingang des Buches (auf etwas schockierende Art) Friedrich Dürrenmatt.
»[…] Zu dem Turnier der Weltmeister werden Schachliebhaber aus der ganzen Welt anreisen. Hunderttausende reich mit Geld versehene Menschen werden nach Wasjuki strömen. Die Flussschifffahrt wird eine solche Menschenmenge nicht befördern können. Also muss der Volkskommissar für Verkehrswesen eine Bahnstrecke Moskau-Wasjuki bauen lassen. Das zum Ersten. […] Nun zur Eisenbahnstrecke Moskau-Wasjuki. Zweifellos wird ihre Umschlagkapazität nicht ausreichen, um alle Leute, die nach Wasjuki kommen wollen, zu befördern. Daraus ergibt sich der Bau des Flughafens Groß-Wasjuki, ein regelmäßiger Verkehr von Postflugzeugen und Luftschiffen in alle Ecken der Welt, einschließlich Los Angeles und Melbourne.
(aus: Ilja Ilfs und Jewgeni Petrows »Der interplanetare Schachkongreß«)
Auch Kurt Guggenheim (»Aepplis Tod«) zeigt, daß Schach nicht einfach ein Spiel, sondern mit strategischer Kriegsführung verwandt ist – die Partien sind nichts Geringeres als (theoretische) Schlachten. In denen aber mehr stecken kann, denn das Spiel, das Brett, die Türme, Springer und Läufer wie der König und die Königin haben eine heute kaum noch bis an den Ursprung nachzuvollziehende Geschichte und Entwicklung hinter sich. Ihnen wohnt eine Bedeutung inne, die über (kriegerischen) Heeresfiguren hinaus ins Mythologische, ja Phantastische reicht. Daran erinnert ganz wunderbar Katherine Nevilles märchenhaftes »Das Montglane-Spiel«, in dem sich Sage, Fabel und Historie auf pittoreske Weise mischen.
Ebenso phantastisch, aber deutlich abgehobener, fällt Ilja Ilfs und Jewgeni Petrows »Der interplanetare Schachkongreß« aus. Die Utopie des frühen zwanzigsten Jahrhunderts verweist nicht nur auf Träume, sondern auch darauf, wie brüchig Traumbilder manchmal sind und erinnert an die Anekdoten falscher Bahngesellschaftsfunktionäre, die sich mit dem Versprechen, die Bahn (damals noch königlich oder kaiserlich) überlege, ihre neue Strecker hier entlang zu bauen, von Bürgermeistern und ortsansässigen Fabrikanten bei teurer Kost und Logis »einladen« ließen, um danach – spurlos – zu verschwinden …
November 2024, Wolfram Quellmalz
Nicht nur für Schachexperten: Den fünfzehn Erzählungen folgt eine Erklärung der wichtigsten verwendeten Sachbegriffe sowie ein Quellen- und Autorenverzeichnis.
