Neujahrskonzert von AuditivVokal
Der Blick in die zweite Jahreshälfte verrät viele Pläne und Wünsche, aber auch planerische Ungewißheiten [NMB berichteten: https://neuemusikalischeblaetter.com/2025/01/10/expertise-erhalten/%5D. Immerhin bis Mai gibt es gesicherte Wegmarken im Programm von AuditivVokal. Am Dienstag kehrte das Vokalensemble für sein Neujahrskonzert ins Dresdner Leonhardi-Museum zurück. Hier, im Haus des spätromantischen Malers Leonhardi, wo heute überwiegend zeitgenössische Exponate zu sehen sind (aktuell Arbeiten des Hermann-Glöckner-Schülers Wilhelm Müller), liegen teilweise die Ursprünge von AuditivVokal, die 2007 in einem ihrer ersten Programm die Partnerschaft von Ligeti und Gesualdo beleuchteten.
Auch diesmal standen sich unsere zeitgenössische und überlieferte Musik gegenüber, wobei sich selbst da neue Höreindrücke (oder -vorstellungen) ergaben. Wo AuditivVokal auftritt, wird es oft experimentell, gerät ein Konzert zur Performance, ein wenig zum Happening. Solche anregenden Grenzüberschreitungen gehören beim Leiter Olaf Katzer einfach dazu. Nicht nur »Ohren auf« heißt es dann, sondern alle Sinne und Gedanken öffnen. »Positiv Spaces«, so der Konzerttitel, stand also für einen optimistischen Moment gleichermaßen wie für eine Erweiterung des Klangraumes bzw. eine Wahrnehmung all der Komponenten, die zu einem Raum gehören können und das Hören beeinflussen.
Kunsu Shim durfte den Abend mit kleinem Knalleffekt eröffnen: »Positive Spaces – for Lee Ufan« schlug die Brücke zum ideellen Inspirator, einem – passend für diesen Ort – zeitgenössischen Maler und Bildhauer. Zwar »passiert« in »Positive Spaces« kaum mehr als ein kurzer Ausruf (»Off«) und daß diverse Gegenstände zu Boden fallen, die initiale Sekunde erwies sich dennoch als öffnender Impulsgeber.
Zunächst ging es aber zu Guillaume de Machaut und zur Musik des 14. Jahrhunderts. »A ma fin fest mon commencement« (Mein Anfang ist mein Ende) im Trio von Oliver Chubb, Nikolai Füchte und Cornelius Uhle stellte nicht nur einen Bezug zum mittelalterlichen Text her, sondern zu mehrfachen musikalischen Spiegelungen. De Machaut, gleichermaßen Komponist und Dichter, steht für eine Epoche, die wir heute Ars nova (neue Kunst) nennen – also passend für AuditivVokal.
Trotz solch historischer Rückblicke überwogen die Beiträge der Gegenwartsmusik, wie vom Komponisten Gerhard Stäbler, der nicht nur anwesend war, sondern an den Aufführungen teilnahm. In seinem Werk »All is to be dared« (Alles ist zu wagen) fokussiert er auf die (Selbst)wahrnehmung, die er mit dem dritten Teil »Lachen« in allen Facetten vorführte: komponierte Hysterie, Wohlgefälligkeit und (scheinbar) spontane Ausbrüche. Vom Ensemble zu acht vorgetragen, übertönten zwar die schrillen Lachtöne die leiseren, doch schon hier zeigte sich: wer beobachtet, also das Sehen einsetzt, hört anders und auch das leisere, liebliche. Insofern wollte auch der vierte Satz (Uraufführung) das Publikum vor die Frage stellen, was es wirklich »sieht« und was Illusion ist: ein Mann (der Komponist), der einen Bräter über den Boden zieht – ist das ein Konzert? Es gehört eben dazu, wie der Augentanz, nun wieder vom Ensemble vorgeführt und parallel auf einem Bildschirm dargestellt – Therapeuten empfehlen solches zur Entspannung und vorbeugend gegen Kopfschmerzen.
Was nicht heißen soll, daß hier nicht gesungen worden wäre. Mit Christian Dedekinds Aria, auf zwei Chören, zu 6. in langsamen Tact kam erneut ein altes Werk (17. Jahrhundert) zur Aufführung, schon hier aber mit dem Effekt oder der Frage, was daran damals schon grotesk oder heute ironisch sei, warnt der Text doch mit »darunter stecken List und Tücke« oder »Sie speiset Honig mit Galle«.

Gerhard Stäblers »ZwischenRäume« mit dem weit im Raum verteilten AuditivVokal setzten sich mit dem kaum Wahrnehmbaren auseinander, das durch Ritzen dringt – einzelne Silben, Wortfetzen, Töne. Auch sein folgendes »Für später: Jetzt« warnt das Kind vor den Steinchen, die es zu Fall bringen kann. Als Rezitator verlebendigte Gerhard Stäbler mit Raoul Hausmanns Gedicht »kp’erioum« einen Dada-Klassiker, der endlich einmal darauf hinwies, daß dieser Kanon mehr als nur Kurt Schwitters umfaßt!
Derart angeregt und aufgeschlossen stellte sich die Frage, ob Felix Mendelssohns »Neujahrslied«, zuletzt ganz ernsthaft mit dem Dresdner Kammerchor gehört, hier (auch) eine ironische Überhöhung erfahren hatte – waren da die Stacheln der Rose zu hören, deren Blüte der romantische Text beschreibt?
Mit Kunsu Shim zeigte sich AuditivVokal wieder einmal als Grenzgänger, denn »Am Ende« sollte als überlanges, ruhiges, um steigende und fallende Intervalle kreisendes, fast stehendes, immer wieder von Pausen unterbrochenes Stück doch manche im Publikum strapazieren. Dem Werk liegt ein Text von Rainer Maria Rilke zugrunde, der sich jedoch, in Silbenfetzen zerlegt, kaum oder nur teilweise in einzelnen Worten erkennen ließ. Eine Orientierung, »wo« man gerade sei, war nicht möglich, die Spannweite aber zu groß – irgendwann wurden auch die Klappstühle schlicht unbequem. So stellte sich der eine oder andere wohl die Frage, wann »Am Ende« denn nun am Ende sei. Das öffnet natürlich die Tür zum Umkehrschluß, was bzw. wieviel sich Zuhörer zumuten wollen. Wobei dies hier nicht tadelnd gemeint ist, sondern nur im Sinne der Frage – wo, wenn nicht in den experimentellen Räumen von AuditivVokal, will man dies ausleben?
Allerdings war nach dieser Strapaze ein wenig die »Luft raus«. Die mehrsprachige Polyphonie und Botschaft von Rene Hirschfelds »Da pacem«, die zweite Uraufführung an diesem Abend, hätte früher im Programm vielleicht mehr Aufmerksamkeit erfahren.
Kunsu Shims »leisen Knalleffekt« gab es noch einmal zum Abschluß. Und da wir gelernt hatten, daß zum Hören das Sehen und überhaupt jedes Wahrnehmen gehört, nahmen wir auch die Spielkarten wahr, die herunterfielen – mit dem Harlekin als Joker obendrauf. Zufall?
15. Januar 2025, Wolfram Quellmalz