Unerhört!

Ferruccio Busonis »Klavierkonzert« im Gewandhaus

Das Stück hatte wohl kaum einer der Besucher am Freitag im Leipziger Gewandhaus vorher gehört – Dramaturgin Ann-Katrin Zimmermann freute sich daher zur Konzerteinführung besonders über den regen Publikumszuspruch: »Was wir heute erleben können, erleben wir vielleicht nur einmal im Leben«. Warum? Weil das Konzert für Klavier und Orchester C-Dur (BV 247) von Ferruccio Busoni so außergewöhnlich ist – riesig in der Besetzung, höchst anspruchsvoll für den Pianisten und immens lang. Schließlich hat man weder Chöre und Orchester schnell mal zusammen noch der Pianist seinen Part so einfach »drauf« – bis zu vier Systeme hat Busoni benutzt, um dem Klavier seine Noten aufzuschreiben (üblicherweise sind es zwei für rechte und linke Hand). Als Triathleten bezeichnete Ann-Katrin Zimmermann seinen Anteil mit virtuosesten, dann wieder orchestralen Passagen und Begleitfiguren. Und Spielanweisungen wie »molto robustamente« (sehr robust), »con brutalità« (mit Brutalität) oder »vagamente mordissimo« (vage, beißend) scheinen eher paradox, wenn nicht wie ein Oxymoron, denn ein konkreter Hinweis zur Ausführung.

Ferruccio Busoni (Photographie um 1895) Sammlung der Library of Congress’s George Grantham Bain, Bildquelle: Wikimedia commons

Schon die Gattung »Konzert« trifft es im Grunde nicht, denn Busonis Opus 39 steht Ludwig van Beethovens Phantasie für Klavier, Chor und Orchester Opus 80 zumindest in der äußeren Form incl. des Chores nicht nach. Trotz vieler Zitate und Bezüge (Ann-Katrin Zimmermann hatte dem Publikum unter anderem Wagners »Parsifal« und Mendelssohns »Schottische« entdeckt), trotz vieler Anspielungen und Verflechtungen und eines – zumindest für heutige Hörer – etwas abseitigen oder fragwürdigen Gesangstextes entfaltet das Werk keinen eklektizistischen Eindruck, sondern bezaubert durchaus mit eigenem. Und das lag hier zuallererst an der sorgfältigen Stabführung von Sir Antonio Pappano, auch wenn letztlich beim großen Jubel Pianist Igor Levit besonders bedacht wurde.

Mag man das Werk vielleicht mit »merkwürdig« einordnen, so fiel dennoch auf, daß Busoni mit dem großen und vielfältigen Multiklangkörper keinen bombastischen Tumult anstiftet – das Gewandhausorchester blieb unter Antonio Pappanos Leitung schlank und legte eine orchestrale Polyphonie offen. Das sorgte mit der freien Gestalt des Werkes, das keinem Formenkorsett unterworfen ist, und dem Klavier, auf dessen Tasten Igor Levit mal höchst virtuos turnte, dann wieder donnernde Kaskaden lostrat, um sogleich mit dem Orchester zu verschmelzen, eher für den Eindruck einer Phantasie als den eines Konzertstückes. Nebenbei bereitete dem Pianisten das klavieristische Ungetüm offenbar Vergnügen, denn er hatte an manchen Passagen sichtlich Spaß, wie seine Notenumblätterin, die dies aus nächster Nähe verfolgen durfte.

So öffnete sich für den neugierigen Besucher durchaus ein musikalisches Schatzkästlein, in dem er Schumanns Fanfaren, Rachmaninows Étuden oder einen Widerhall aus Tschaikowskys erstem Klavierkonzert zu entdecken vermochte. Hat etwa Busoni jenes charakteristische Anfangsmotiv, das der Russe praktisch fallenläßt und im ganzen Werk nicht mehr darauf zurückkommt, im Gestus weitergesponnen?

Doch wie gesagt – nicht eklektizistisch. Mag man dies oder das erkannt zu haben glauben – es führte eigentlich nie zur Erkenntnis, wo Busoni »abgekupfert« habe, sondern zu einer Motiv- und Verflechtungsvielfalt und Vitalität. Die Polyphonie, die unter Pappano fließen durfte, machte es leicht. Schlaglichter und geschärfte Konturen grenzten Teile oder musikalische Ideen ab, ohne dabei ins übermächtig Wogende abzudriften.

Der Fluß, die »Linien« und Bezüge wurden bis in die Verbindung Solist und Orchester hörbar, wenn etwa die Klavierkadenz vom folgenden Paukenakkord aufgenommen wurde. So schien die märchenhafte Phantasie bis zu Debussys »Pelléas et Melisande« zu reichen.

Schließlich sei die oben angedeutete Kritik am Text sogleich zurückgenommen, nicht nur, weil die Herren des MDR-Rundfunkchores und des GewandhausChores ihn so wohlgestaltet und verständlich (auch hier: gut verfolgbar) hervorbrachten. Adam Gottlob Oehlenschlägers dramatisches Gedicht zu »Aladdin oder die Wunderlampe« kann man heute etwas wunderlich finden (was hätte wohl Richard Wagner dazu gesagt?), es ist dennoch ein Zeitdokument von 1808 und darf als solches gern noch einmal im Leben erklingen.

Übrigens, so ergab es sich im Nachgespräch, gibt es ja noch andere Komponisten, deren Werk stigmatisiert ist und die Aufführung des einen oder anderen Stückes bremst. Carl Czerny zum Beispiel schrieb neben seinen Étuden mehrere Klavierkonzerte

17. Januar 2025, Wolfram Quellmalz

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