Mikhail Pletnev zu Gast im Gewandhaus
Der Pianist und Dirigent Mikhail Pletnev macht sich rar. In die Region kam er länger nicht, dabei gab es herausragende Konzerte, etwa mit der Sächsischen Staatskapelle in der Dresdner Frauenkirche (Mozarts Krönungskonzert und Jupiter-Sinfonie), was aber lange zurückliegt (Dezember 2006). Beethoven hatte sich Mikhail Pletnev intensiv zugewandt, vor allem den Sonaten und Klavierkonzerten, aber das ist ebenso schon einige Jahre her. Am Sonnabend gastierte er im Rahmen der großen Klavierkonzerte im Leipziger Gewandhaus mit zwei Zyklen, Préludes von Alexander Skrjabin und Frédéric Chopin. Bezieh7ungsweise – der Entstehung nach – eigentlich umgekehrt. Im Aufbau waren sie nicht nur gleich, Skrjabin folgte in seinem Opus 11 auf der Reise durch den Quintenzirkel mit allen Tonarten in Dur und Moll dem Muster von Frédéric Chopin. Mikhail Pletnev hatte die späteren Préludes jedoch auf die erste Programmhälfte gesetzt.
Ob er das Vergleichen »erschweren« wollte, verhindern, daß man bei einer Reihung Vorgänger – Nachfolger in die Falle tappt und vermeintliche Anleihen oder Zitate zu entdecken glaubt? Oder wollte er die Form aufbrechen? Genau das gelang Skrjabin vielleicht noch mehr als Chopin – einen Zyklus zu schaffen, der sich an Formen, einem Schema, einer regelgerechten Struktur orientiert, jedoch genau das – »ordnungsgemäße« Stücke – nicht vorweist.
Zauberisch war, wie Mikhail Pletnev den ersten Kosmos von Skrjabin öffnete, nachdem er kurz in den fast völlig abgedunkelten Raum gegrüßt hatte. Tonarten und Konturen schienen nebensächlich, Licht und Luft war es, was diese Musik trug, diesen Klang. Versponnene Fäden, die sich nie verwirrten, egal, wieviel Schleifen sie haben mochten. Wie sich rechte und linke Hand in Spiel und Stimmen teilten, schob jede »Strukturanalyse« beiseite. Da waren Stimmung und Farben, ephemer und immerzu beweglich.

Schon früher hatte Mikhail Pletnev verschiedene Flügelmodelle ausprobiert, sich jetzt für einen großen Shigeru Kawai entschieden, mit dem er die Nuancierung feiner Piani weit auflöste – gerade im Leisen fand er Konturen, Pulse, Schwerpunkte. Später, bei Chopin, als nach Pause die Dynamik auch die oberen Grenzen durchbrach, ging diese Differenziertheit an einzelnen Stellen verloren.
Doch zunächst offenbarten sich in Skrjabins Préludes, die teilweise in Dresden entstanden waren, manche Bezüge. Keine »Anleihen«, aber ein wenig Chopin klang oder schimmerte doch durch, wie im Andantino E-Dur, um sogleich eine neue Tür zu öffnen – gehörte das folgende Andante cis-Moll noch in die gleiche Welt oder kündigten sie bereits die Images eines Claude Debussy an? Auch der hatte die Konkretheit (in seinem Fall von Bildern) mit Freizügigkeit und Freiheit verbunden. Manchmal schwappten die Préludes oder Bilder bereits in den Bereich von Phantasien, die ganze Geschichten zu erzählen vermögen.
Sie blieben letztlich in einem Rahmen, jedoch nie starr oder einengend. Die feine Nuancierung ließ sich noch an Doppelschlägen und Schlußakkorden beobachten – allein dafür fand Mikhail Pletnev mannigfaltige Ausdrücke zwischen sanft eindämmend und schärfer konturiert einbindend. Oder er setzte mit einem Doppelschlag ein bewußtes Ende.
Die Hände demütig gehoben, mit den Handflächen nach oben – diese Geste sollte er auch am Ende des zweiten Teils wiederholen. Wie um darauf hinzuweisen, daß dieses Zauberwerk nicht von ihm sei, er es ja nur mitgebracht habe.
Also Chopins Zyklus Opus 28 an zweiter Stelle. Oft zupfen sich Pianisten daraus einzelne Blüten und Perlen, Mikhail Pletnev ließ das Collier intakt und offenbarte im Largo e-Moll bereits eine kleine Regentropfensammlung. Später verdichtete sich die Stimmung, wurde dunkel wie bei Schubert, erregt wie bei Schumann. Forciert klang der Flügel kurz metallisch schrill, doch Pletnev fing ihn ebenso wieder ein wie die stetig rinnenden und pochenden Regentropfen. Der Anschlag wurde weicher, erneut zauberisch wie bei Skrjabin, offenbarte kurz vor Schluß noch einmal ein kleines erzählerisches Drama (g-Moll, Nr. 22).
Die Spannung schien greifbar, hielt nach dem Ende an, statt sich zu entladen. Ein großer Klavierabend! Doch was (oder wieviel) bringt man nach zwei Zyklen als Zugabe(n)? Ein flüchtiges Nachtstück, ein Nocturne von Chopin, sollte genügen.
9. Februar 2025, Wolfram Quellmalz