Beeindruckt, aber ratlos

Uraufführung von Requiem A von Sven Helbig mit dem Dresdner Kreuzchor

Das Gedenkkonzert zum Tag der Zerstörung Dresdens gehört zu den wichtigsten Terminen im Kalender des Kreuzchores. Und wie die anderen Gedenkanlässe um den 13. Februar ist es mit einem Bewahren, also Beibehalten, ebenso verbunden wie mit einem Wandel im Leben derer, die Gedenken. Das schließt die Erinnerungs- und Aufführungskultur mit ein. Das diesjährige Konzert in der Kreuzkirche bedeutete am vergangenen Sonntag mit der Uraufführung des Requiem A von Sven Helbig gleichzeitig eines der größten und wichtigsten Projekte des Kreuzchores in den letzten Jahren. Um so schöner, daß er dafür nicht nur Partner wie die Sächsische Staatskapelle und den ehemaligen Kruzianer René Pape gewinnen konnte, sondern darüber hinaus den Fernsehsender arte, der die Aufzeichnung ab Donnerstag (13.) in seiner Mediathek anbietet und am 8. Mai im Fernsehprogramm ausstrahlt. Noch wichtiger: an diesem Tag ist auf dem Heldenplatz inWien eine zweite Aufführung geplant (dann mit den Wiener Symphonikern), im Oktober soll das »Requiem A« in der Kathedrale in Coventry mit dem Birmingham Symphony Orchestra und dem Trinity Boys Choir erklingen. Der Kreuzchor und Kreuzkantor Martin Lehmann sind beide Mal dabei.

Requiem A mit dem Dresdner Kreuzchor und der Sächsischen Staatskapelle Dresden, Komponist Sven Helbig links neben dem Kreuzchor am Pult, Photo: Dresdner Kreuzchor, © Oliver Killig

Mancher fragte sich allerdings vorab, ob Sven Helbig, Kunstpreisträger der Stadt Dresden (2022), jedoch eher mit populärer Musik vertraut, in so klassischen und liturgischen Gefilden denn ausreichend »zu Hause« sei. Sein Suchen nach einem Beginnen, Anfang oder Sinn des Requiems zumindest sorgte ein wenig für Ratlosigkeit. Daß er den Buchstaben »A« im Grimm’schen Wörterbuch als »edelsten, ursprünglichsten aller Laute« fand, daß »Atem« oder »Asche« damit beginnen, also »A« für einen Anfang steht – genügt das? (Zum »R« steht im selben Wörterbuch: »sein Laut ist mit dem eines knurrenden Hundes verglichen«.)

Sven Helbig hat eine umfassende Komposition geschaffen, die Chor, Solisten, Elektronik und sogar Bilder einschließt (Máni Sigfússon) und eine Antwort nach dem »Warum?« suchen möchte. Doch ist das möglich? Und vor allem: ist es notwendig? Sven Helbig fand, die Schuldfrage sei in Rudolf Mauersbergers Trauermotette »Wie liegt die Stadt so wüst« ausgeklammert geblieben, die Textbehandlung der Klagelieder Jeremiae auch durch die Kreuzkantoren danach »einseitig« behandelt, die Problematik »jahrzehntelang weggedrückt« worden. Doch besteht der Sinn dieses »Warum?« nicht gerade darin, der Fassungslosigkeit Ausdruck zu verleihen, so wie wir es jedes Mal erleben, wenn an Gedenkorten von Katastrophen oder Anschlägen zwischen Blumen und Photos Zettel mit der schlichten Frage »Warum?« zu sehen sind?

Dresdner Kreuzchor, Kreuzkantor Martin Lehmann und Solist René Pape, Photo: Dresdner Kreuzchor, © Oliver Killig

Eine Antwort fand Sven Helbig nicht, wollte er sicher auch nicht in der Konsequenz einer Schuldzuweisung. Sein Requiem sorgte für starke Eindrücke, große Klänge, unbestimmte Übergänge und fehlende Bezüge machten das Werk aber auch schwer faßbar. In der abgedunkelten Kirche dominierten die auf ein riesiges »A« projizierten Videos – Lichter, Sonnen, Bäume, Wasser … Viel Symbolik, kleine rätselhafte Figuren, aber in der Gewaltigkeit des Eindrucks ging der Zauber verloren bzw. stand beliebig interpretierbar allgefällig zur Verfügung. Was hat das mit mir, mit uns, mit Dresden zu tun? Was mit dem Gedenkanlaß, wo liegt die »Brücke«, die sich spätestens mit der Aufführung in Coventry ergeben sollte? Fehlt dem Werk nicht ein relativierendes Moment, das einen Abstand zwischen Betroffenen und dem Gedenken definiert und gleichzeitig  Anknüpfungspunkte schafft?

Was gerade der Kreuzchor und die Staatskapelle an Klang boten, war allerdings erstaunlich und überwältigend. Die Artikulation des Chores hervorragend – solange deutsch gesungen wurde, war alles bestens. Folgten jedoch lateinische Texte (»Cor, ignosce, surge et vola« / »Herz, vergib, steig‘ auf und flieg«), wurde es schwierig, denn in der Dunkelheit (noch ein zusätzlicher Moment visueller Beeindruckung) konnte man sie im Programmheft nicht mitlesen. Auch die beiden Arien für René Pape glückten nicht, was allein an der Technik lag. Seine Stimme ist unverkennbar (und wäre damit ein Identifikationsmerkmal), doch in der elektronisch übermäßigen Verstärkung verhallt sie vollkommen unverständlich, vor allem im ersten der Texte (»Meer von Tränen«). In der Wahrnehmung gebrach es dem Werk vor allem an zwei handwerklichen Schnittstellen: der Dominanz unnötiger Bildabläufe, die sich nicht zwingend auf Musik oder Text bezogen, dazu wiederholten und teilweise ruckelten, sowie unklaren Übergängen zwischen »echter« Musik und elektronisch eingesteuerten Elementen – Martin Lehmann schien teilweise tatenlos zu warten (bis ihm ein Kommando im Ohr den Ablauf freigab).

Die Kreuzkirche war bis auf den letzten Platz gefüllt, vorn im Kirchenschiff ein riesiges »A« als Projektionsfläche, Photo: Dresdner Kreuzchor, © Oliver Killig

Wobei neben dem Moment der Aufführung das Projekt als solches verdient, beachtet zu werden, also auch, was es für die Kruzianer bedeutet, an so etwas mitzuwirken. Nicht zuletzt muß man die umwerfend emotionale Wiedergabe von Rudolf Mauersbergers Trauermotette vor dem Requiem dazuzählen, denn in den Proben und der Entstehung hat es mit Sicherheit eine Wechselwirkung zwischen beiden Werken gegeben. Letztlich konnte Sven Helbigs Opulenz, der Wille, zu beeindrucken, nicht überzeugen. Dafür berührt – vielleicht als indirekter Effekt – das ohne Antwort gebliebene »Warum?« von Mauersberger um so mehr.

10. Februar 2025, Wolfram Quellmalz

Hinterlasse einen Kommentar