Premiere von Kaija Saariahos »Innocence« an der Semperoper
Daß der Stoff von Kaija Saariahos Oper »Innocence« »schwierig« sei, hörte man vorab hier und da. Eine junge Frau, Stela, hat in Bukarest einen Mann kennengelernt, Tuomas, dem sie in sein Land folgt – ein freies Land, wie sie aufatmend meint. Doch in der Familie, in die sie einheiratet, gibt es einen Mann, den Bruder ihres Gatten, der vor zehn Jahren ein Massaker an einer Schule angerichtet hat – puh! Ja, schwerer Stoff, aber mal ehrlich: in Opern seit jeher gemordet und gestorben, auch in »Tosca«.
Lorenzo Fioroni (Regie) hat sich des Stückes angenommen und mit Paul Zoller (Bühne) und Annette Braun (Kostüme) stimmungsvoll inszeniert, am Sonnabend war Premiere in der Semperoper. »Stimmungsvoll« meint hier nicht eindeutig temperamentvoll, düster oder abgründig. Die agierenden Personen scheinen vielmehr wie in einer Schneekugel umgeben, von Regen und Schnee eingefangen, im Moment festgehalten. Da sie alle, die Familie des Täters und die Zeugen des Massakers, am gleichen Ort blieben, führt jede Begegnung zu einer Erinnerung. Nur die Opfer sind in einer anderen Welt …

»Innocence« ist keine Oper im gewohnten Format. Nicht nur, weil sie modern ist, sondern weil die Musik weniger trägt als sonst. Sie malt Szenen aus, wesentlich sind aber die Texte, das Libretto von Sofi Oksanen. Es ist in neun (!) Sprachen verfaßt und verlangt vom Besucher, mitzulesen, wenn er verstehen will, was Personen denken und fühlen. Gerade die Vielsprachigkeit ist ein Schlüssel, das Werk zu »defokussieren« und von der strapaziösen Überinterpretation eines exakten Falles zu lösen. Das Massaker in »Innocence« bezieht sich nicht konkret auf einen realen Fall in Finnland, Norwegen oder Spanien – es kann überall passiert sein. Die Phänomene gleichen sich: einerseits will der Opfer gedacht, soll an sie erinnert werden, andererseits hindert und traumatisiert das Erinnern jene, die als Betroffene weiterleben, ein neues Leben beginnen wollen – wo die Grenze ziehen, wo »aufhören« beim Erinnern?
Die Stärke des Stückes liegt gerade darin, daß es solche Grenzen nicht zieht, aber Brüche aufzeigt. Wie die Selbstanklage der Mutter, die so ein »Monster« großgezogen hat, letztlich aber ihre Mutterliebe nicht verleugnen kann. Oder in der Verzweiflung der Lehrerin, die in einem Schrank Zuflucht fand und überlebt hat, weil sie die Türen geschlossen hielt, statt noch jemanden mit hineinzunehmen – hätte sie ein Schüleropfer verhindern können?

Wer eine Flucht aus dem Massaker fand und nicht verletzt wurde, ist am Ende doch beschädigt, selbst die Braut, die von außen als Heilsbringerin kam, kann dem nicht entgehen. Vielleicht sind deshalb manche Kostüme in Zeit und Mythologie unwirklich verzerrt, übertrieben – weil jeder flüchten will, weil für eine ganze Gesellschaft nichts mehr stimmt?
Feinfühlig und differenziert erzählt das Stück, hat auf dem Weg dennoch ein paar Längen. Gründe, Täterprofile in vergleichbaren Massakern werden gesucht, aber eine befriedigende Erkenntnis, die vorausschauen, verhindern ließe, gibt es nicht. Vielleicht wäre dies ein guter Schlußpunkt gewesen. Der Versuch, den Fall weiter aufzuklären, die begleitenden Umstände offenzulegen und zu zeigen, daß es weitere Mitwisser, Mittäter gab und keiner Unschuldig ist, wirkt mehr und mehr gezwungen. Dargestellte Einzelfälle verlieren sogar an Gewicht, wenn sie zu nah ans Klischee geraten.
Das liegt aber meist im Stück begründet, wenig in der Regie, die mit ihrer ambivalenten Stimmung selbst Fragen stellt und Deutungsansätze bietet. Schon zu Beginn sind auf der Bühne sechs von weißen Tüchern bedeckte Kisten zu sehen – Särge?
Die Musik beginnt akkordisch, gefolgt von einem düsteren Fagottsolo, dann Trommelrhythmen. Immer wieder werden Melodiebögen von Strukturen durchkreuzt, durchdringt ein Marsch die eben noch liegenden Schwebetöne, beschleunigt ein Crescendo aus trügerischer Ruhe. Kaija Saariaho ist keinem Schema aus Themen gefolgt, vielmehr hat sie die Musik wie eine wandlungsfähige Ausstattung verwendet.

Die Sächsische Staatskapelle trat vor allem mit einzelnen Stimmen oder in Gruppen hervor, formte daraus eine bestimmte Farbe, steigerte sich impulshaft in einen expressiven Reflex, der sogleich wieder abebbte. Dirigent Maxime Pascal, einer von dreizehn (!) Personen der Besetzung, die ein Hausdebüt feierten, brachte die Spannung ebenso auf die Spitze, wie er dräuende Nebel ziehen oder die Musik fadenfein dem Regen folgen ließ, der alle einhüllt.
Zur Sängerbesetzung gehören nicht nur klassische Opernstimmen – vieles wird gesprochen, wenn der Text dann gedehnt wird, »kippt« er, wird zum Lied, Chanson oder gleitet ab. Venla Ilona Blom, die als Engel Markéta ausdrucksstark – verlassen, allein – eines der Opfer spielt (»Mehl zu Staub, Wein zu Essig«), hat Gesang, Performance und Komposition studiert und unter anderem Musik für die Serie »Game of Thrones« geschrieben. Jessica Elevant (Schülerin Lilly) ging einen klassischeren Weg, gewann bereits Preise beim Gesangswettbewerb WagnerStimmen (Karlsruhe). Daß hier niemand fehl am Platz wirkt, sondern aus den so unterschiedlichen Akteuren eine heterogene Gruppe geformt wird, prägt die ganze Produktion. Der Sächsische Staatsopernchor agiert aus dem Hintergrund (»Stela« rufend) oder in Einzelpersonen.
Unter den Hauptrollen ragte am Premierenabend Anu Komsi als Patricia (Mutter des Bräutigams) mit ihrer flammend emotionalen Glaubwürdigkeit heraus. Mit geringeren, aber um so gewichtigeren Anteilen, weil sich mit ihr das Ereignis immer wieder in den Familienkreis drängt, trat Paula Murrihy als Kellnerin Tereza und Mutter der toten Markéta in Erscheinung. Auch Rosalia Cid (Stela), Mario Lerchenberger (Tuomas), Markus Butter (Vater), Timo Riihonen (Priester) zeigten die Fragilität der Charaktere, die bemüht sind, eine Haltung zu wahren, sich aber der Vergangenheit, die sie tief im Innersten betrifft, nicht entziehen können. Fredrika Brillembourg setzte als Lehrerin immer wieder solche Zeichen. So bleibt am Ende die Frage, wer oder was wirklich »unschuldig« sei, offen. Es gibt wohl keine Antwort, das zeigt das Stück, wenn es die Frage stellt, ob man alles vergeben kann.
9. März 2025, Wolfram Quellmalz
Kaija Saariaho »Innocence«, Inszenierung: Lorenzo Fioroni, Semperoper Dresden, mit Maxime Pascal (Musikalische Leitung), Anu Komsi, Paula Murrihy, Fredrika Brillembourg, Venla Ilona Blom, Mario Lerchenberger, Rosalia Cid, Markus Butter, Timo Riihonen, wieder am 19. (Dresdentag), 23., 26. und 31. März (Dresdentag) sowie am 4. und 11. April