Jonathan Tetelman in Marco Arturo Marellis »Don Carlo« an der Deutschen Oper Berlin
Kurz bestand am Donnerstag die Sorge, ob dieser »Don Carlo« in die Jahre gekommen sei, denn in Marco Arturo Marellis Inszenierung von Giuseppe Verdis Drama (Fassung in vier Akten) an der Deutschen Oper Berlin begannen die Kulissen beim Fahren zu quietschen. Glücklicherweise aber nur am Anfang, im weiteren Verlauf – wiewohl die Bühnenelemente fast permanent in Bewegung waren – beherrschte die Musik das Geschehen. So erwies sich das Stück unter der Federführung von GMD Sir Donald Runnicles als frisch und dramatisch, als läge die Premiere erst wenige Tage zurück (tatsächlich Oktober 2011).

Überhaupt war die Musikalische Leitung wesentlichstes Element des Abends, obwohl die Oper dem Namen nach und die Besetzungsliste mit Jonathan Tetelman in der aktuellen Serie einen besonderen Helden ausweist. Ob in unheimlich dräuenden Piano-Passagen, zu Macht- (nicht Schicksals-)schlägen Philipp II. oder dem Feuer des Autodafé – aus dem Bühnengraben kamen Klänge, die leise schleichend einhüllten, urplötzlich hereinbrachen oder wild aufflammten. Damit »bediente« Sir Donald Runnicles nicht nur die emotionale Auslegung von Rollen und Erzählung, er verband die Musik mit der subtilen Regie von Marco Arturo Marelli (Inszenierung, Bühne sowie Licht) zu einem eindrücklichen Bühnengeschehen, wie man es selten erlebt. Vergleicht man das mit anderen Inszenierungen, die stärker auf Machtsymbolik oder Konflikte fokussieren, vertieft sich der Effekt noch.

Insofern wurde der Himmelfahrtstag zu einem Opernerlebnis ganz im Sinne Verdis, hatte er doch für jede seiner Hauptfiguren nicht nur eine passende Arie, sondern eine Szene geschrieben. Das eröffnet natürlich Möglichkeiten, eine andere oder menschliche Seite der Helden zu zeigen. Helden? Philipp II. ist im Grunde der böse Machthaber, der Flandern ins Unglück gestürzt hat und den im Augenblick des Zorns der Marquis de Posa fragt, ob er denn der einzige im ganzen Reich sei, den er nicht beherrschen kann. Doch mit Alex Exposito wurde beim König eine Menschlichkeit deutlich, denn Philipp zweifelt, verzweifelt; er selbst warnt Elisabeth, daß aus Zorn Rache wächst. Als (auf seinen Befehl) die flandrischen Deputierten und mit ihnen Carlo hingerichtet werden, bricht auch Philipp II. aus seelischem Schmerz zusammen.

Es war ein Fest der Stimmen und doch wieder kein bloßes Fest im Sinne einer Gala, denn Sir Donald hielt den dramaturgischen Faden fest in den Händen, wofür er und die Sänger am Ende von einem enthusiastischen Publikum gefeiert wurden. Wie schön, daß unter den Zuhörern nicht nur eine gute »Altersmischung« bestand, Neugier und Verständnis verhinderten Zwischenapplaus an unpassenden Stellen, verdienten Beifall für Extraauftritte gab es selbstverständlich. Zu allererst wohl für Jonathan Tetelman als Don Carlo. Seine Stimme ist wie gemacht für jugendliche, leidenschaftliche Helden und kann gewaltig anschwellen. Aber das feine »kann« verweist darauf, daß er es nicht beständig macht. Tetelman überzeugte mit differenzierter Darstellung und zarten Tönen gerade in den Szenen mit Elisabeth. Diese (Federica Lombardi) muß ihn groteskerweise »Sohn« nennen und er sie »Mutter« (dabei waren sie sich einst versprochen).

Federica Lombardi hatte die vielleicht ambivalenteste Rolle: als Spielball oder Opfer der Macht kann Elisabeth selbst Macht ausüben, ist ausgeliefert, erkennt aber die Schwächen (Philippes), lernt zu taktieren. Daß sie sich in ihren Gefühlen treu bleibt, wird Elisabeth letztlich zum Verhängnis. Philippes Satz »Sie hat mich nie geliebt« formuliert irgendwie den Anfang vom Ende. Die Rolle von Prinzessin Eboli (Irene Roberts) ist kaum weniger ambivalent – aus verletzter Eifersucht begeht sie einen schlimmen Verrat, den sie schnell bereut. Eboli vermag weniger zu taktieren, dafür entwickelte Irene Roberts in der »O-don-fatale«-Arie eine unverblümte Leidenschaft.

Es hätte – trotz des mehrfachen Wandels – im Hin und Her der Macht Möglichkeiten der Rettung oder für ein gutes Ende gegeben. Aber selbst der Marquis de Posa als einer der gescheitesten Helden gibt letztlich sein Leben hin. Gihoon Kim steigerte sich in die Rolle des treuesten und besten aller Freunde und des Diplomaten (noch ein Balanceakt), was ihm an diesem Abend an Glaubwürdigkeit und Ausstrahlung wohl die meisten Sympathiepunkte einbrachte.

Was unter anderem so sehr für die Regie einnimmt, ist, daß sie trotz der im Stück festgelegten Rolle des Großinquisitors und der Inquisition immer auf den Aktionsraum bzw. die Verantwortung der Akteure zusteuert und – trotz dominierend in der Bühne auftauchenden Kreuzen – nicht billige Kirchenkritik auslebt. Patrick Guetti verbindet noch als riesiger, blinder Großinquisitor Gebrechlichkeit und Verletzbarkeit mit Machtausstrahlung – mit donnerndem Baß kann er den König retten, gibt Philipp aber auch zu verstehen, wer die Macht wirklich hat.
30. Mai 2025, Wolfram Quellmalz