Podium Aufführungspraxis im historischen Kontext hinterfragt gängige Praxis
Feinheiten liegen oft im Detail, können aber eine enorme Wirkung auslösen, Gegensätze offenbaren, eine Sache in vollkommen anderem Licht erscheinen lassen. Ergo lohnt es, Dinge zu hinterfragen. Das Podium Aufführungspraxis im historischen Kontext zielt nicht auf einen alten, historisierenden Klang allein, sondern spürt generellen aufführungspraktischen Belangen nach. Manches, was man so oder so macht, weil es »normal« ist, entspricht einer Angewohnheit nach Überlieferung – aber ist das immer richtig?
Am Montag gaben Studenten im Kleinen Saal (Aula) der Musikhochschule Einblicke in solche Fragestellungen und präsentierten zwischen Barock und zwanzigstem Jahrhundert höchst erstaunliches. Esperança Recio Tugores und Huang Shih-Yung zum Beispiel waren beide bereits erfahren im Umgang mit der Violine, jene Barockinstrumente ohne Kinnhalter und mit historischem Bogen mit Steckfrosch hatten sie aber erst seit zwei Wochen. Was sie damit bereits erreicht haben, war bemerkenswert – Marco Uccelinis Aria quarta a tre sopra la Ciaconna bewies nicht nur eine behende Fingerfertigkeit in der Virtuosität, sondern Feingefühl und Gestaltungssinn. Seulhwa Jang vervollständigte das Trio am Cembalo – »a tre« will schließlich drei Stimmen haben, die sich reihum in der Ciaccona vereinigen. In »La Rosella« von Maurizio Cazzati standen sich danach sonatentypische Themen gegenüber.
»Früh übt sich« heißt es außerdem oft. Studenten kommen heute mit ausgewiesenen Vorkenntnissen und Erfahrungen an Musikhochschulen. Das dürfte auch für Marlene Morneburg gelten, die in einem Duetto von Joseph Fiala die Fagottstimme übernommen hatte, obwohl sie gerade im zweiten Semester studiert. Mit Hanna Makarenko (Oboe) fand sie in ein sehr gesangliches Miteinander, dessen Wirkung besonders hervortrat, weil die beiden »Sängerinnen« ohne Baßbegleitung auskommen mußten.
Aber wenn es schon schwierig ist, die Normalität von heute festzulegen, wie kann man dann erfahren, was vor 200 … 300 Jahren normal war? Wie hat man verziert, wie hat man freie Kadenzen entwickelt? Eine ausgiebige kritische Quellenanalyse ist eine unabdingbare Voraussetzung, dies zu erfahren. In manchen, wenigen Fällen gibt es klare Anweisungen, wie etwas auszuführen ist: Von Georg Philipp Telemann sind einige Methodische Sonaten überliefert, die im Notentext genau angeben, wie eine Melodie- und Begleitstimme verziert werden soll. Vanda Weinberger (Flöte) und Seunghwa Kim (Violoncello) führten dies praktisch vor – die normale Melodie schien schlicht, im Vergleich zur ausgezierten Endfassung aber beinahe langweilig. Später gab es mit der Sonate g-Moll von Georg Friedrich Händel noch eine weitere »Reinfassung«.

Der historische Kontext bezieht sich aber nicht allein auf Renaissance und Barock, sondern nicht weniger auf die Zeit danach. Nikolaus Branny spielte auf einem Hammerklavier die Fantasie II aus Carl Philipp Emanuel Bachs Clavier-Sonaten. Hier lag in der Musik wie im Instrument eine Verfeinerung, erlaubt es der Hammerflügel doch im Gegensatz zum Cembalo, dynamischer zu gestalten. Davon machte Nikolaus Branny ausgiebig Gebrauch, setzte ein bedachtes Piano ein und betonte die Geläufigkeit durch Artikulation. Manchmal scheint es beim Hammerflügel, als vergolde er seinen Klang mit einem Glöckchen.
Der historische Kontext greift aber auch Modeerscheinungen oder Pfade der Interpretation auf, die vorrübergehend akzeptiert oder betont wurden, manchmal (aber nicht immer) ursprünglich sind, sich aber nicht erhalten haben. Das Portamento in Sergej Koussevitzkys Andante aus dem Kontrabaßkonzert zum Beispiel war arg gewöhnungsbedürftig. Für Franz Huber war es eine Notwendigkeit, sich mit dieser Praxis auseinanderzusetzen, Tonübergänge zu »verschleifen«. Im Podium erklärte Bernhard Hentrich als Leiter der Reihe dem Publikum solche Zusammenhänge. Neben ihm sorgten Anne Schumann (Streicher) und Sebastian Knebel (Tasteninstrumente) als Mentoren dafür, daß den Teilnehmern in teils kurzer Zeit verblüffende Ergebnisse gelangen.
Dazu zählte ein Posaunenquartett mit Markus Krancher, Christian Möllmann, Marcus Hardt und Fritz Vogel, die zunächst im Consort (Tanzsuite von Michael Praetorius) und später als romantisches Quartett (Equali Ludwig van Beethovens) auftraten.
Natürlich verbindet man einen »historischen Kontext« trotzdem meist mit Alter Musik. Entsprechend sorgten Esperança Recio Tugores, Huang Shih-Yung und Seulhwa Jang für einen erwartungsgemäßen – normalen? – Schluß: Andrea Falconieri ist einer der bekanntesten Vertreter des Napolitano. Das Trio ließ seine »L’Eroica« bündig in Marco Uccelinis Aria Bergamasca übergehen.
8. Juli 2025, Wolfram Quellmalz