Widor in Auszügen

Pascal Kaufmann bei den XXVI. Pirnaer Abendmusiken

Das Œuvre von Charles-Marie Widor ist immens, seine Bedeutung als Orgellehrer nicht minder – neben Charles Tournemire zählte Albert Schweizer (der unter anderem als Organist und Musikwissenschaftler Abschlüsse hatte) zu seinen Schülern. Widor selbst hatte bei Jacques-Nicolas Lemmens gelernt und wurde durch Aristide Cavaillé-Coll gefördert, war mit praktisch allen Musikern und Komponisten bekannt, die zu seiner Zeit in Paris lebten, Camille Saint-Saëns, Charles Gounod, César Franck …. Viele davon waren versierte Organisten. Dennoch ist uns Widors Werk nur in Auszügen geläufig bzw. werden Teile daraus, wie die Toccata aus der fünften Orgelsinfonie, wegen ihrer Beliebtheit bei Spielern und Publikum oft präsentiert, was aber zu einer übermäßigen Betonung führt. Sich Widors Orgelwerken einmal in ihrer Vollständigkeit über die berühmte Toccata hinaus zu widmen, lohnt in jedem Fall.

Pascal Kaufmann, derzeit A-Kirchenmusiker an der Schloßkirche Augustusburg, versuchte sich gestern im Kompromiß in einer Annäherung, als er den Zuhörern in der Pirnaer St.-Marien-Kirche Auszüge aus drei Orgelsinfonien bot – drei Tonarten, drei Landschaften, ermöglichten Einblicke in Widors Schaffen.

Dabei erwies sich Pascal Kaufmann erneut als nicht nur kundig, sondern meisterlich im Umgang mit dem Instrument, der Auswahl der Register und der Erarbeitung der einzelnen Sätze. Schließlich hat der Komponist Widor darin verschiedene Ebenen angelegt, die sich mal terrassenförmig erheben, dann wieder sinfonisch ineinanderfließen und die Gattung deutlich von Triosonaten oder Werken für Melodiestimmen und Basso continuo unterscheiden.

Gemeinsam mit seinem Bruder Markus hatte Pascal Kaufmann bereits früh für Aufsehen gesorgt und durch Stipendien und Projekte viel Aufmerksamkeit erfahren, folgerichtig kamen beide bereits früh in attraktive Positionen (Markus Kaufmann ist in Leipzig an der Nikolaikirche). Von ihrem gemeinsamen Schaffen zeugt nicht nur die Einspielung sinfonischer Werke von Antonin Dvořák, Bedřich Smetana und Felix Mendelssohn auf CD, sondern auch eine klassische Bearbeitung des »Steigerliedes«.

Viel von diesem sinfonischen Verständnis, der Ordnung von Stimmen (bzw. Registern) war auch gestern zu hören. Darüber hinaus konnte man in mancher Form andere entdecken, wie im Gestus‘ eines Präludiums im Allegro der Orgelsinfonie Nr. 6, g-Moll. Beeindruckend war vor allem das gleichwertige Nebeneinander von Form bzw. Artikulation und Stimmung, im Manual wie im Pedal, denn gerade das Wechselspiel und die Übergänge sind wesentlich in Widors Sinfonien.

Manch funkelnder Satz, wie das zweite Allegro der sechsten Orgelsinfonie oder das Allegro vivace der siebenten, konnten den beliebten »Evergreen« der Toccata spielend ersetzen. Interessant war vor allem Widors Themenentwicklung, wie am Beginn der sechsten Orgelsinfonie und wie er im zweiten Allegro den »Faden« wiederaufnimmt.

In den Auszügen der siebenten Sinfonie wiederum überwogen zunächst die Stimmung prägende Elemente. Feingliedrig wie mit Glöckchen (oder fein tremolierenden Bläsern und Streichern) begann der Auszug, dem Moderato cantabile verlieh Pascal Kaufmann einen Ave-Maria-Charakter, bevor das Finale mit fanfarenähnlichen Motiven schloß. Beeindruckend war das in jedem Fall, doch öffnete es die Tür zu Widors Orgelsinfonien trotzdem nur ein Stück weiter. Immer wieder scheint der Komponist eine Schlußwendung einzuleiten oder gar einen Schlußakkord, dem er jedoch einen Mittelteil anfügt, bevor der Anfangsteil variiert wiedererscheint, oder dem scheinbaren Schluß einen erweiterten nachreicht. Um solche Entwicklungen und vor allem die Kontraste stärker wahrzunehmen und sich letztlich fragen zu können, inwieweit Widor in seinem sinfonischen Werken sakral, also an eine Liturgie gebunden, oder konzertant frei blieb, wären die vollständigen Werke wohl aussagekräftiger gewesen. Allerdings ließe das keine »Mischung« zu, denn Widors Orgelsinfonien erreichen Bruckner’sche Ausmaße und sind teilweise bis zu einer Stunde lang.

25. Juli 2025, Wolfram Quellmalz

CD-Tip: Antonin Dvorak, Sinfonie Nr.9 für Orgel zu 4 Händen und 4 Füßen, außerdem: Humoreske Opus 101 Nr. 7 für Orgel, Franz Liszt »Der Heilige Franziskus von Paula auf den Wogen schreitend« für Orgel zu 4Händen und 4 Füßen, mit Markus Kaufmann und Pascal Kaufmann an der Kern-Orgel der Frauenkirche Dresden, erschienen bei Querstand

Videotip: »Steigerlied goes Klassik«, Fantasie für Orchester »Ode an des Steigers Licht«, mit der Jungen Philharmonie Augustusburg und Pascal Kaufmann:

https://www.youtube.com/watch?v=2TBsOl3zXqA

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