The Tallis Scholars bei den Dresdner Musikfestspielen
Natürlich klingt es wie ein Höhepunkt, wenn ein etabliertes, seit Jahrzenten bestehendes Ensemble, seinen Besuch ansagt. Da freut man sich doch! Allerdings gab es in den letzten Jahren in solchen Fällen auch herbe Überraschungen, denn über Jahrzehnte lassen sich weder die Form noch der Stil und der Stand der Wissenschaft (bzw. der historischen Informiertheit) konservieren – das will man ja auch nicht! Weltberühmte Quartette oder Gesangsensemble stehen irgendwann vor der Frage, ob sie einen (guten) Endpunkt erreicht haben und sich auflösen sollten oder ob ihnen ein Wandel gelingt (wir vermeiden das Unwort »zeitgemäß«). Das mag an dieser Stelle akademisch oder belehrend scheinen, doch wir haben genau dort, wo gestern ein großartiges Konzert zu erleben war, in der Dresdner Frauenkirche, auch schon (englische) Gesangsensemble gehört, von deren einstiger Berühmtheit nur ein matter Abglanz geblieben ist.
Deshalb also: glücklicherweise gehören The Tallis Scholars nicht dazu!!! Peter Phillips, Gründer und bis heute Leiter, ist es offenbar gelungen, die Idee, den Geist, den Gestus in einer zeitgemäßen (Pardon!) Form zu erhalten. Das ist nicht selbstverständlich, bestehen The Tallis Scholars doch seit mittlerweile 50 Jahren. Zum Jubiläum haben sieein Festprogramm aufgelegt, das neben dem Namensgeber viele derer Komponisten umfaßt, die nicht nur zum Kernrepertoire der Sänger gehören, sondern ihnen ganz besonders am Herzen liegen. Neben Renaissancekomponisten durften sich so auch zwei Zeitgenossen einreihen.

The Tallis Scholars, Photo: © Hugo Glendinning
Mit Orlando Gibbons »O Clap Your Hands« bewies schon die »Visitenkarte« zu Konzertbeginn, welche emotionale Wucht die zehn Sängerinnen und Sänger zu erreichen vermögen – das nahm nicht nur einfach mit, das war schlicht umwerfend! Mit dieser expressiven Ausdeutung gingen die Scholars durchaus an eine Grenze, rutschten hier und da darüber (ein einzelner Sopran drang dann etwas scharf durch), glichen dies aber mit einer meditativen Ruhekraft aus, wie in Tomas Tallis‘ »Suscipe quaeso Domine« (aus »Cantiones sacrae«).
Da war es schade, daß nach wirklich jedem Titel der Applaus losbrach – Peter Phillips nahm ihn dankbar an, hätte ihn aber lieber höflich unterbinden und aufs Ende verschieben sollen. Denn nach vielen Stücken fehlte schlicht die Stille, wie nach Tomáš Luis de Victorias »Versa est in luctum« oder den beiden verbundenen »Lugebat David Absalon« (Nicolas Gombert) und »Absalon, fili mi« (Josquin Desprez), die sich beide auf die gleiche Textquelle (2. Buch Samuel 19,1–5) beziehen. War das erste bereits getragen, folgte mit Desprez ein ergreifender Trauergesang in Quartettbesetzung – solche Momente sorgten für Gänsehaut!
Die Vermittlung beherrschen sie ganz ausgezeichnet, bei William Byrd (»Tribue Domine« aus den »Cantiones sacrae«) ebenso wie beim 1981 geborenen Nico Muhly. Der New Yorker hat dem Ensemble »Rough notes« geschrieben, das mit beinahe bildnerischer Kraft zwei unterschiedliche Texte aus Robert Falcon Scotts Expeditionstagebüchern vertont und dabei Inhalt und Stimmungslage auf beeindruckende Weise verbindet.
Man kann The Tallis Scholars also durchaus die Rolle musikalischer Missionare zuerkennen, die mit ihrer Überzeugungskraft das Potential haben, Neuhörer fast unmittelbar für ihr »Spezialgebiet« zu gewinnen und Möglichkeiten eröffnen, etwas neu zu hören: Arvo Pärts »Which was the Son of …« (nach Lukas 3, 23 bis 38) zum Beispiel mag für uns der Liturgie nach ein ungebräuchlicher Text sein. Ihm zu folgen und eine Botschaft zu suchen, scheint im Konzert kaum sinnvoll (selbst wenn die Aufzählung der Generationen dies grundsätzlich erlaubt). Löst man sich jedoch vom und hört die Worte einfach als Klang, der sich aus Tönen, Rhythmus und Struktur zusammensetzt, gelingt eine Annäherung vielleicht besser.
Gestern gelang sie. Daher durfte Arvo Pärt – als einziger Komponist des Abends – noch einmal erklingen, mit einem Te deum als Zugabe.
11. Juni 2023, Wolfram Quellmalz