Karolina Juodelyte beim Dresdner Orgelzyklus
Daß man auf einer Silbermann-Orgel nur Bach, Sweelinck oder Buxtehude und ihre Zeitgenossen spielen könnte, ist gottlob eine Ansicht, die heutzutage (fast) nicht mehr vertreten wird. In der Musik den Zeitstrahl weit über den Barock hinauszugehen, haben nicht nur der aktuelle Domorganist an der Dresdner Hofkirche (Kathedrale) Sebastian Freitag, sondern bereits seine Vor- und Vorvor[…]gänger gewagt. Dennoch fällt auf, daß gerade in den letzten Konzerten des Dresdner Orgelzyklus immer wieder zeitgenössische Kompositionen zu hören waren. Zuletzt hatte allein in den Konzerten an der Hofkirche Julia Raasch vor drei Wochen Nikolai Geršaks »Hævel« und die »Liturgie eines Einsamen« von Martin Sturm gespielt, im Mai gab es eine erfreuliche Wiederbegegnung mit James MacMillans »Gaudeamus in loci pace«, gespielt diesmal von Christian Weiherer, im gleichen Monat hatte Samuel Kummer an der Orgel improvisiert – zeitgenössischer geht es wohl kaum.

Onutė Narbutaitė und Bronius Kutavičius, Photos: Music Information Centre Lithuania (MICL), © Astrid Ackermann und Dmitry Matveyev
Dabei sind solche Überschneidungen bzw. die Paarung von barocker und zeitgenössischer Musik gar nicht so ungewöhnlich, hatten Gastgeber Sebastian Freitag und die Organistin des Abends, Karolina Juodelyte, gestern im Vorgespräch festgestellt: Während man vor allem bei romantischer Musik auf dem Silbermanninstrument an Grenzen stoßen kann, weil »Tasten fehlen« oder sich bestimmte Klänge nicht erzeugen lassen, schreiben Komponisten heute wieder so, daß sich ihre Musik ebenso auf Barockorgeln darstellen läßt.
Karolina Juodelyte hatte gleich zwei Beispiele für ihr Programm ausgewählt: Onutė Narbutaitės »The road to silence«, 1980 geschrieben, sowie die drei Jahre später entstandene Sonate »Ad patres« von Bronius Kutavičius. Damit stellte die in Litauen geborene Organistin, die heute Kirchenmusikerin an der Heilige-Familie-Kirche Berlin-Lichterfelde ist, gleichzeitig Kompositionen zweier Landsleute vor, was in jedem Fall eine Bereicherung war.
Begonnen hatte Karolina Juodelyte mit Johann Sebastian Bach. Sein Präludium und Fuge G-Dur (BWV 541) durfte den Abend eröffnen, die gleiche Werkpaarung, aber in Es-Dur (BWV 552), sorgte später für einen kraftvollen Beschluß. Dieser Rahmen war gelungen, da er einerseits dem Konzert eine Fassung gab, andererseits konnte man die beiden Charaktere vergleichen, also wie unterschiedlich doch eine Paarung von Präludium und Fuge incl. der zugehörigen Bezüge ausfallen kann – während G-Dur mit einem impulsiven Präludium beginnt und von einer »ordnungsgemäßen« Fuge quasi überboten wird, als handele es sich um eine Vater-Sohn-Beziehung, wandet sich schon das Präludium Es-Dur prachtvoll und selbstbewußt, während die Fuge sehr majestätisch wirkt, im Mittelteil aber mit einer freieren Beweglichkeit überrascht.
Demgegenüber, also der architektonischen Meisterschaft, fand Karolina Juodelyte in Jan Pieterszoon Sweelincks Variationen über »Est-ce Mars« ein filigranes Flechtwerk, das feingezeichnete Linien ebenso enthielt wie stimmungsvolle, flimmernde Bilder. Zwar war Sweelincks Musik noch weit davon entfernt, direkt mit Malstilen verglichen zu werden (wie viel später die Impressionisten), doch konnte man Elemente, hier: Wasser, in unterschiedlicher Gestalt hören, etwa als Fluß oder Fontaine. Immer wieder aber setzte Karolina Juodelyte die Orgel als universelles Instrument in Szene, das sowohl den Solisten (Melodie / Lied) als auch den Basso continuo darstellen kann. Dieses Ansinnen verfolgte sie noch sehr viel direkter mit einem Ausschnitt aus Georg Friedrich Händels Orgelkonzert F-Dur (HWV 295), woraus die Organistin als Ausschnitt das Larghetto – Allegretto wählte, in dem sich Kuckuck und Nachtigall »duellieren«.
So unterschiedlich wie die übrigen Werke fielen schließlich die beiden Repertoirebereicherungen aus Litauen aus. »The road to silence« von Onutė Narbutaitė erwies sich dabei als das komplexere der beiden Stücke, das den Gegensatz von Stille und Lärm aufnahm und als Umgebung für ein musikalisches Motiv verwendete. Manches klang dabei bedrohlich, anderes fremd – wieder einmal überraschte, welch künstlich scheinende Klänge sich auf einer Silbermann-Orgel erzeugen lassen. Teils (das war auch bei James MacMillan so) hätte man meinen können, sie seien elektronischen Ursprungs!
Die Sonate Bronius Kutavičius erwies sich vollkommen andersgeartet als Werk, das einem musikalischen Minimalismus folgt. Damit suchte man zwar vielleicht vergeblich nach jener Überhöhung oder Spannung wie in den anderen Stücken; die Metamorphose des Klangs über stehende Figuren, die sich doch allmählich wandeln oder plötzlich »kippen«, konnte die Aufmerksamkeit nicht im gleichen Maße gewinnen wie Bach, Sweelinck oder eben Narbutaitė, dennoch blieb auch »Ad patres« nicht ohne Überraschung. Etwa, wenn plötzlich die Register reduziert werden und eine Sequenz allein dazustehen scheint – als habe ein Element seine Hülle verloren und sei plötzlich deutlich sichtbar geworden.
20. Juli 2023, Wolfram Quellmalz
Am kommenden Mittwoch spielt Jean-Christophe Geiser (Kathedrale Lausanne) an der Jehmlich-Orgel der Kreuzkirche Werke von Johann Sebastian Bach, Louis-James-Alfred Lefébure-Wély, Guy Ropartz und Louis Vierne.