»Wenn wir Glück haben, kommen wir wieder bei d-Moll raus«

Ex tempore spürt in Leipzig der Improvisation in der Alten Musik nach

Es war bereits das achte Mal, daß sich Festivalleiter Martin Erhardt in Leipzig mit Freunden auf die Suche nach der Improvisation in der Alten Musik gemacht hat. Eigentlich war das doch überfällig, schließlich kam die Improvisation doch von dort und nicht aus dem Jazz. Vielmehr hat sich der Jazz das Improvisieren ursprünglich bei der Klassischen Musik abgeschaut und weiterentwickelt, während das Improvisieren in der Klassischen Musik zuletzt an Bedeutung verlor. Mittlerweile kommt es aber wieder in Mode: Kadenzen werden neu geschrieben, Organisten improvisieren frei, Pianisten wie Gabriela Monteiro gestalten ganze Improvisationsabende. Beim Festival Ex tempore gab es in Leipzig sogar passende Workshops und – da stand der Jazz doch Pate – Jamsessions am Sonntag und Montag nach den Konzerten. Dann durften auch Besucher, die ihre Instrumente mitgebracht hatten, einstimmen.

Ensemble all’improvviso, Photo: © Elias Tulchynsky

Früher, also im 17., 18., 19. Jahrhundert, wurde also viel mehr improvisiert. Wirklich? Einerseits: Ja. Denn viele Komponisten räumten den Interpreten große Freiheiten ein. Teils aus Pragmatismus, um die Werke mit dem verfügbaren Material (ob nun Instrumente oder Musikanten) aufführen zu können, auf der anderen Seite kannten Vivaldi, Händel und Co. ihre Virtuosen sehr genau, schrieben ihnen Stücke auf die Saiten und in die Kehle und hatten sehr konkrete Vorstellungen über deren Verzierungs- und Improvisationskunst. Schaut man sich die Noten der Alten Musik an, so findet sich dort oft mehr als nur Viertel, Achtel, Baßschlüssel … – oft sind die Noten mit Punkten, Strichen, Mützchen und allen möglichen Zeichen versehen. Dahinter verbergen sich sehr genaue Ausführungsanweisungen, die man erst einmal erlernen und kennen mußte, bevor man spielen konnte. Improvisation war also möglich, aber auf einem begrenzten, definierten Raum. Doch gerade dieser Übergang machte den Reiz aus – und ist schwierig.

Am Montag traf sich das Ensemble all’improvviso (Marie Luise Werneburg / Sopran, Martin Erhardt / Flöte und Cembalo, Michael Spiecker / Violine, Miyoko Ito / Viola da Gamba, Claudius Kamp / Fagott sowie Christoph Sommer / Laute) im UT Connewitz, Leipzigs ältestem erhaltenen Lichtspieltheater, um über Musik von Georg Friedrich Händel, »Il caro sassone« (»Der liebe / teure Sachse), wie ihn die Italiener nannten, zu improvisieren. Dafür hatten sie vier der italienischen Sonaten ausgewählt, für die Händel nur Sing- und Continuostimme notiert hatte. Cembalo, Violine oder auch Fagott mußten ihre Stimmen selbst finden. Mal als Vorspiel im Sinne eines Préludes, mal als Begleitung, Erwiderung oder Verzierung. Das war gestalterisch reizvoll, es zeigte sich aber auch, daß Improvisieren viel Aufmerksamkeit, Kennen (auch der Spieler untereinander) und Spontanität erfordert. Und dies war gerade anfangs noch zu spüren, weil die Spieler sehr aufeinander achteten und warteten. Da schien die Improvisation zuweilen eher zu bremsen.

Zwischen den Sonaten gab es eine improvisierte Tanzsuite sowie eine Triosonate (jeweils aus den Noten Händels schöpfend, aber mit ein wenig Bach verziert). Martin Erhardt erklärte dabei noch einmal das Prinzip und die Herausforderung speziell in der Triosonate, die zwar einen abgesprochenen Wechsel in sich trug, den Ausführenden aber Freiheiten erlaubte. Seine »Hoffnung«, daß man sich am Ende wieder in der gleichen Tonart treffe, erfüllte sich aber doch wohl mit Kalkül und Können und nicht mit Glück.

Michael Spiecker, Claudius Kamp und Martin Erhardt improvisieren eine Triosonate à la Händel, Photo: NMB

Besonders gelungen waren zunächst jene Sätze, bei denen nicht gestaltete Übergänge, sondern ein lebendiger, schwingender Grundrhythmus allen gemein war, wie im Minuett der Tanzsuite. In der Folge wurde vor allem Sopranistin Marie-Luise Werneburg zunehmend freier und nutzte ihren Gestaltungsspielraum, auch dort, wo es (musikalisch) gar nicht so dramatisch zuging wie im Rezitativ der Sonate »Care selve, aure grate« (Liebliche Wälder, angenehme Lüftchen). Daß auch die Instrumentalisten zunehmend freier wurden, bewies spätestens Michael Spiecker, dem im letzten der Stücke die höchste Saite riß – ob er sie nicht mehr brauchte? Egal – er improvisierte das Stück zu Ende, ohne unterbrechen zu müssen.

Dank des großen Publikumszuspruchs und der bestehenden Unterstützung schaute Martin  Erhardt voraus, daß es in zwei Jahren wohl das nächste Ex tempore geben werde.

3. Oktober 2023, Wolfram Quellmalz

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