Ensemble Continuum XXI schließt heute ans 16. Jahrhundert an
Die Sänger von AuditivVokal sind dafür bekannt, daß sie sich nicht nur selbst in der zeitgenössischen Musik experimentellen Stücken nähern, sie ermöglichen auch dem Publikum einen solchen Zugang. Am Donnerstag luden sie zu einem »Musiktheater des Labyrinths« mit dem Titel »Color & Lamento«, wobei die Initiative diesmal vom Ensemble Continuum XXI ausging, das sozusagen einem »verdrehten Anachronismus« frönt: Neue Musik auf historischen Instrumenten zu spielen.

Genau das, die direkte Verbindung von Musik aus der Zeit (lange) vor Bach und ganz neuesten Werken, erweist sich oft als inspirierend, legt Gemeinsamkeiten offen. Im Festspielhaus Hellerau darf man dazu etwas Besonderes erwarten, flexible Konzepte zum Beispiel, die Künstler und Publikum nicht einfach statisch gegenüberstellen. Diesmal erkundeten drei Besuchergruppen (farblich in »weiß«, »schwarz« und »neongelb« getrennt) mit Taschenlampen ausgerüstet die Räume, die teils verdunkelt, aber immer von farbigem Lichtschimmer zumindest leicht erhellt waren. Die installierten Lichtstrahlen durfte man frei interpretieren – vielleicht gehörten sie zum »Color« des Titels, vielleicht nicht. In drei Phasen und teils kleinen Räumen (daher die Gruppenaufteilung) wurde dem Publikum Musik von Nicola Vicentino und Emilio de Cavalieri (16. Jahrhundert) präsentiert, ersterer mit den im Consort vereinten Stimmen von Stefan Kunath (Altus), András Adamik (Tenor) und Cornelius Uhle (Baß). Anne Stadlers Sopran durfte sie deutlich überragen – eine Überflügelung, die auch in einigen der folgenden Stücke und mit Katharina Salden gelang.

Enharmonische Schwebungen und mikrotonale Intervalle rückten die alten Stücke und die ganz neuen nah zusammen. Wie in Alyssa Askas Fragmenten »Ut queant laxis« (aus dem Johannes-Hymnus). Ursprünglich vom Gesangslehrer Guido von Arezzo zum Üben von Tönen der Gregorianik erdacht, stellt die Grazer Komponistin Intervalle kanonartig gegenüber und läßt sie bis zum repetierenden Ton vereinzeln.
Im zweiten Teil (Phase 2) wurde Emilio Cavalieris Lamentatio Hieremiae Prophetae die Uraufführung von Alyssa Askas XXXI colores et XXXI umbrae (31 Farben und Schatten) vorangestellt. Noch vor dem Betreten des Festsaals schwebten die Klänge der digitalen Arciorgano (einer mikrotonalen Orgel) durch den Raum, was wegen seines fernen, verschwommenen Charakters Assoziationen an Debussys versunkene Kathedrale (Prélude Nr. 10 aus dem ersten Band) weckte. Alberto Arroyo hatte dafür die Leitung von Olaf Katzer vom AuditivVokal übernommen, was dirigentisch wie im übergeordneten künstlerischen Sinn zu verstehen ist.
Es verwunderte kaum, noch eine weiter »Drehung« zu erleben. Denn für die zweite Uraufführung, Alberto Arroyos »LABRYS« in Phase 3, verließen die Zuhörer die obere Publikumsrampe, um über das Treppenhaus in den Festsaal zurückzukehren – diesmal aber unterhalb der Bühne und auf der anderen Seite. Nicht nur optisch war dies ein Perspektivwechsel, auch musikalisch und experimentell. Von den Musikern des Ensemble Continuum XXI von hinten eingefangen, durchschritten Anne Stadler, Katharina Salden, Stefan Kunath, András Adamik und Cornelius Uhle den Raum, folgten individuellen Gängen, Wegen und Texten (Carmen Guaita), die teils gesungen, teils gesprochen wurden. Wieder standen sich das Stück oder die Situation charakterisierende Attribute gegenüber, in Klängen ebenso wie Texten (als Wort, Fragment oder Kernsätzen wie »Wo liegt die Wahrheit?«). Sie durchmischten und vereinzelten sich periodisch, auch zwischen Sängern und Instrumentalisten, verebbten schließlich und führten in einen Grundton, eine Vibration bzw. einen (Klang)schatten.
10. November 2023, Wolfram Quellmalz