Reise zu »Vision.Bach« nach Herrenberg
Im Mai vor 300 Jahren trat Johann Sebastian Bach sein Amt als Thomaskantor in Leipzig an. Das Jubiläum wurde in diesem Jahr vielfach gefeiert, mit einzelnen Konzerten oder Reihen, in Portraits, Podcasts und anderem. Hans-Christoph Rademann hat an der Internationalen Bachakademie Stuttgart mit der Gaechinger Cantorey pünktlich zum Jubiläum einen Zyklus begonnen, der alle Kantaten, die Johann Sebastian Bach in seinem ersten Leipziger Jahr schrieb, in Konzerten präsentiert – ein beachtenswertes Projekt! Eigentlich wollten wir Vision.Bach, wie die Reihe genannt wird, erst im kommenden Jahr besuchen, doch der Aufführungsort Herrenberg vorgestern und die Aussicht, daß die Bahn bis zum 7. Januar nicht streiken wird, ließ uns den Plan eines freien Tages zwischen Weihnachten und Neujahr aufgeben. Beinahe hätte ich »leichten Herzens aufgeben« geschrieben, doch ganz so leicht geschah es nicht. Immerhin dauert die Reise von Dresden nach Herrenberg (eine gute Verbindung vorausgesetzt) knapp sieben Stunden, auch am Folgetag stand nach der Rückankunft gleich ein Konzert im Plan (Silvesterkonzert mit der Sächsischen Staatskapelle) – kein »Puffer« also, von »entspannt Reisen« konnte keine Rede sein. Die spontane Floskel, was wohl das größere Abenteuer würde – die Reise mit der Bahn oder das Konzert mit Bach – bedarf daher einer Antwort.

Kniffliger schien die Hinreise (dreimal umsteigen), jedoch gab es immerhin ein paar kleine Ausweichmöglichkeiten im Falle von Verspätung. Auf dem Rückweg (nur zweimal umsteigen) dagegen nicht, außerdem wollten dann kurz vor Ladenschluß bzw. Konzertbeginn noch die letzten Einkäufe für Silvester und Neujahr getätigt werden.
Als äußerst vorteilhaft erwies es sich, Platzkarten erworben zu haben, denn fast alle Züge waren restlos ausgebucht. Ein Sitzplatz, zumal mit Tisch zum Arbeiten, war Gold wert! Wer öfter Bahn fährt und vorausschauend handelt, nimmt wärmende Pullover, gegebenenfalls eine Decke mit, denn Züge sind nicht nur im Sommer empfindlich kühl. So auch diesmal: Je näher wir Frankfurt kamen, desto kälter wurde es!
Der erste Umstieg klappte noch, beim zweiten wurde es jedoch schon knifflig. In Mannheim waren regulär nur vier Minuten vorgesehen – äußerst knapp (immerhin gleicher Bahnsteig gegenüber). Die fast »regulär« erwartete Verspätung war bald gegeben, fünf Minuten zunächst. Doch die Entwarnung kam aber ebenso bald: »In Mannheim werden alle Anschlußzüge erreicht« – Anschlußzüge wie der ICE nach Stuttgart hatten ebenfalls Verspätung. (Auch das fast schon regulär, praktisch eine zuverlässige Unzuverlässigkeit). Allerdings betrug die Verspätung von ICE 519 gleich eine halbe Stunde – damit war der Regionalexpress in Stuttgart »futsch«. Zum Glück fahren zwischen Stuttgart und Herrenberg verschiedene Fern- und Regionalzüge sowie S-Bahnen. Daß die runde halbe Stunde direkt zum nachfolgenden Regionalexpress führte, alles in allem also nur eine Verspätung von 30 Minuten bedeutete, war verschmerzbar. Einen anderen Vorteil des Regionalexpresses lernten wir erst am folgende Tag schätzen …
Wir erreichten Herrenberg in der Dämmerung. Nach kurzem Aufenthalt im Hotel ging es in die malerische Altstadt (unser erster Besuch dort). Herrenberg und die umgebenden Erhebungen waren voller Lichter, die Stiftskirche empfing uns mit wohltönendem Dreiklang. Im Konzert standen die Kantaten BWV 64 und BWV 40 des Leipziger Jahrgangs 1723 auf dem Programm, dazu Kantate IV aus dem Weihnachtsoratorium – weit mehr, als eine Ablenkung vom Alltag, sondern eine Inspiration! (Unser Konzertbericht folgt gleich im Anschlußartikel.) Die eineinhalb Stunden Musik und der abendliche Ausklang in der Altstadt von Herrenberg hatten definitiv gelohnt.
Am Freitagmorgen die Rückreise. Wie sich zeigte, fuhr kurz nach unserer Ankunft am Bahnhof Herrenberg eine S-Bahn nach Stuttgart, die zwanzig Minuten vor dem ICE der eigentlich geplanten Verbindung dort sein würde. Den Zeitvorteil wollten wir nutzen, vielleicht schnell noch in der Drogerie Kerzen kaufen.
Allerdings waren die Weihnachtsartikel bereits ausverkauft. Schlimmer noch: der Stuttgarter Bahnhof ist eine Baustelle (wie erinnern uns: »Stuttgart 21«), und der Weg vom Kellergeschoß der S-Bahnen bis zu den Fernverkehrszügen ist nicht nur verwirrend (mehrdeutige [in beide Richtungen weisende], nicht zielführende Wegrichtungsanzeiger auf dem S-Bahn-Bahnsteig), sondern auch ungeheuer weit, denn man muß über eine Holzrampe und -brücke fast den ganzen (alten) Bahnhof umrunden. Da waren zwanzig Minuten Vorsprung plötzlich dahin …
Doch ab jetzt ging – Wunder über Wunder! – alles glatt. Die Bahn schaffte es sogar, eine Verspätung (Zwischenstand in Frankfurt: 6 Minuten) abzubauen. Dazu gab es Musik von BR Klassik, Tenor Gösta Wingerh sang das Preislied aus den Meistersingern, als wir in Eisenach unterhalb der Wartburg einfuhren (etwas aus »Tannhäuser« hätte allerdings besser gepaßt). Pünktlich fuhren wir auch in Leipzig ein (rote Kerzen bei DM ergattert!), fast schon unheimlich, daß sogar der IC nach Dresden (mit einem Schaffner, der wie Leonidas Kavakos aussah) exakt nach Fahrplan verkehrte! Da blieb sogar Zeit, vor dem Silvesterkonzert mit Sopranistin Golda Schultz den Koffer abzustellen, den Anzug zu wechseln und eine Schleife umzubinden …
Und was ist nun das größere Abenteuer – Bach oder die Bahn? Mit Sicherheit Bach! Die Bahn steht eher für Risiko (aber wir werden es wieder riskieren) …
31. Dezember 2023, Wolfram Quellmalz