Besuch beim 13. Konzert von VISION.BACH
Daß Bach immer eine Reise wert ist, haben wir ja gerade bestätigt (unser Artikel: »Bahn oder Bach – was ist das größere Abenteuer?«: https://neuemusikalischeblaetter.com/2023/12/31/bahn-oder-bach-was-ist-das-grosere-abenteuer/). Daher wollen wir unseren Lesern das eigentliche Konzerterlebnis nicht vorenthalten. Zunächst sei all jenen, die in Stuttgart oder nahe genug leben oder eine Reise dahin unternehmen, die ganze Reihe »VISION.BACH« ans Herz gelegt. In 23 Konzerten werden hier seit Mai 2023 sämtliche Kantaten des ersten Leipziger Jahrgangs von Johann Sebastian Bach gespielt, und das in (nahezu) der originalen Reihenfolge und an jenen Wochenenden, auf deren Sonn- bzw. Feiertag sich die jeweilige Kantate bezieht.
Vermutlich läßt sich auch zu jedem der noch bis Mai folgenden Aufführungen jeweils etwas Besonderes sagen, sei es wegen des Programms, sei es wegen der Orte (oder wegen beidem) – Herrenberg lockte uns schon äußerlich mit seiner pittoresken Altstadt der eindrucksvollen Stiftskirche. Der segnende Jesus des im Dunklen leuchtenden Chorfensters – eine schönere Begrüßung konnte es kaum geben!

Auf dem Programm standen die Kantaten »Sehet, welch eine Liebe« (BWV 64) und »Darzu ist erschienen der Sohn Gottes« (BWV 40). Außerdem hatte Hans-Christoph Rademann für den weihnachtlichen Zeitpunkt das Konzert noch um Teil IV aus dem Weihnachtsoratorium (»Fallt mit Danken, fallt mit Loben«, BWV 248.2 IV) ergänzt.
Wie immer vor den Konzerten gab es auch in Herrenberg ein Gespräch (»VISION.BACH Impuls«). Dabei muß es nicht unbedingt um Musik gehen, oft stehen gesellschaftliches Engagement oder interessante Tätigkeiten und Berufsbilder im Mittelpunkt. Diesmal wurde der Albert-Schweitzer Kinderdorf e. V. Waldenburg vorgestellt. Das Kinderdorf ist ein Aufnahmeort für Kinder und Jugendliche, die aus teils extrem schwierigen Milieus stammen und hier ein neues Zuhause finden. Sie kommen in der Regel im Alter zwischen 0 und 13 Jahren ins Kinderdorf und verlassen es erst, wenn sie erwachsen, also selbständig werden. Die Herkunftsfamilien bleiben dabei nicht ausgeschlossen, sondern werden in den Lebensweg durch Kontaktbewahrung und Besuchs- und Begegnungsmöglichkeiten eingeschlossen. Vierzehn Besucher aus Waldenburg wohnten dem Konzert bei und erlebten drei der festlichsten Kantaten Johann Sebastian Bachs.

Die Leipziger Kantaten fallen schon wegen ihrer Form auf. »Sehet, welch eine Liebe«, für den 3. Weihnachtstag (Fest des Evangelisten Johannes) geschrieben, ist schon wegen ihrer drei (!) Choräle zwar kein Solitär, aber absolut ungewöhnlich. »Darzu ist erschienen der Sohn Gottes« ist für den 2. Weihnachtstag gedacht, in beiden Fällen gab es damals zwischen den Kantatenteilen Lesungen. Doch auch sonst weichen die Folge bzw. der Verlauf von Rezitativen, Arien und Chören bzw. Chorälen von jenem Standard ab, der sonst manchmal bei Bach festgelegt scheint – oder nicht? Ob der Thomaskantor in bestimmten Jahren experimentierfreudiger war als in anderen und inwieweit wir den Kanon seiner Werke, welcher Johann Sebastian Bach fest in unserem Musikverständnis eingefügt hat, hinterfragen und neu errichten sollten – diesen und ähnlichen Fragen werden wir demnächst in einem Gespräch mit dem Initiator der Reihe und Leiter der Internationalen Bachakademie Stuttgart, Hans-Christoph Rademann, nachgehen.
Die Gaechinger Cantorey stattete den Festglanz der Musik mit Farbe und Leuchtkraft aus, vokal wie instrumental. Geschlossen und flexibel konnte Hans-Christoph Rademann ihren Klang kräftig (Freude, Weihnachtswunder) ausformen, doch auch in leiseren Passagen wurden Text und Affekt deutlich übertragen. Mit Hörnern und Zinken oder Oboen ließ sich das im Schlußchoral sogar noch steigern.
Während BWV 64 solistisch vom agilen Alt Marie Henriette Reinholds getragen wurde, schlossen sich für BWV 40 Daniel Johannsen (Tenor) und Tobias Berndt (Baß) mit ihr zu einem Trio zusammen. Auch bei weniger oft gespielten Kantaten wie dieser kann man immer wieder neues entdecken, etwa den Violone, welcher dem melismatisch-emotionalen Tenor im Rezitativ »Das Wort ward Fleisch« folgt und ihn erwidert.
Natürlich war die vierte Kantate des Weihnachtsoratoriums mit seiner betörenden Echoarie (mit Catalina Bertucci / Sopran und Sophie Harr / Echo) ein abschließender Höhepunkt. Gestalterisch gelang unter anderem Tobias Berndts klangvolles Baßrezitativ »Immanuel, oh süßes Wort« mit dem Choral im Sopransolo wunderbar. Verständlichkeit, Präsenz und Ausdruck waren ohnehin frei von Makeln, um so mehr beeindruckten kleine, gezielte Affekte wie der Akkordschlag im Basso continuo, der die Zeile »Was jagte mir zuletzt [der Tod für Grauen ein]?« betonte.
In der Esslinger Kirche Das Neue Blarer stehen bereits am kommenden Sonnabend die Kantaten »Singet dem Herrn ein neues Lied« (BWV 190), »Schau, lieber Gott, wie meine Feind« (BWV 153) und »Sie werden aus Saba alle kommen« (BWV 65) auf dem Programm. Für den VISION.BACH Impuls sorgt die Meteorologin Dr. Katja Horneffer (Leiterin des ZDF-Wetterteams). Wir haben bereits die erste CD der VISION.BACH-Reihe angehört – unsere Rezension finden Sie in Kürze hier: https://neuemusikalischeblaetter.com/category/cd-empfehlung/
30. Dezember 2023, Wolfram Quellmalz
https://www.bachakademie.de/de/programm-tickets/vision-bach.html