Dresdner Kreuzchor macht das Weihnachtsoratorium zum Erlebnis
Der Termin lag nur scheinbar spät: mögen der bereits auf das Frühjahr eingeschworene Handel und manch andere »vorzeitige Empfindung« auch dagegen sprechen – wir befinden uns noch mitten im Weihnachtskreis. Insofern mußte man die Aufführung der Kantaten IV bis VI von Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium nach den ersten drei im Dezember nicht erst in den Kalender argumentieren. Im Gegenteil: wer die einzelnen Kantaten im Gottesdienst oder in den Vespern der letzten Wochen bereits gehört hatte, konnte dem »geschlossenen Halbkreis« am Sonnabend in der Kreuzkirche noch einmal zusätzlich etwas abgewinnen, etwa, weil die »Farbunterschiede« der Kantaten in der direkten Folge sichtbarer wurden: nach der feierlichen Namensgebung (Kantate IV) scheint die fünfte musikalisch dunkler, ja, verzagter. Der »neugeborne König« ist schließlich nach wie vor bedroht, erst mit der letzten Kantate (Flucht) wird die Bedrohung abgewehrt, bricht sich das Licht Bahn.

Kreuzkantor Martin Lehmann fand dafür erneut eine so lebhafte wie in die Aufführungstradition des Kreuzchores passende Interpretation. Das heißt: eine historische Aufführungspraxis steht nicht im Vordergrund, dafür ein (leicht) romantisierter, vitaler Bach. Und das gelang erneut überzeugend. Trotz teils hoher Tempi lag ein gestalterischer Fokus ganz klar in den dynamischen Kontrasten, was über die Tonartwechsel hinaus den Verlauf noch betonte. Und auch die Tempi blieben flexibel, wechselten zwischen erzählerischem Fluß und sinnendem, besinnlichen Verweilen. Wobei letzteres niemals den Charakter naiver, frömmelnder Hingabe hatte. Gerade das gezielte Ritardando – in Werken wie diesem ungewöhnlich – trug zum vitalen Charakter ebenso bei wie es für die berührendsten Momente sorgte. Beispielsweise beherrscht die Echoarie (»Flößt, mein Heiland«, Sopran und Echosopran) kaum jemand so herrlich wie Martin Lehmann – während das Echo bei den Oboen (Undine Röhner-Stolle und Jens Prasse) exakt einsetzt, ist es im Sopran (Kruzianer Simeon Anwand) um eine Winzigkeit verzögert. Diese Winzigkeit hebt das Echo über eine korrekte, exakte Wechselwirkung und sorgt wie ein Wimpernschlag oder Engelsflügelschlag für eine besondere Aufmerksamkeit, Erwartung (schlicht: Hoffnung oder Heilsversprechen).
Ähnliche Betonungen setzte Martin Lehmann in der fünften Kantate im Terzett von Sopran und Tenor, dem der Alt gegenübersteht und »Schweigt« sagt. Nicht gebietet – Marie Henriette Reinholds ist so schlank, ohne Vibrato klar und durchsetzungsfähig, daß die Textzeile überlegen ist und überzeugt. Die Altistin bewies unter den Solisten die wohl souveränste Leistung, der Tobias Berndt (Baß) allerdings entsprach. Mit ihm hatte er schon im Rezitativ mit Choral (Sopran) »Immanuel, o süßes Wort« jene Kontrastwirkung erzielt, die ohne Überhöhung immer wieder den Verlauf oder die Worte betonte.
Julia Sophia Wagner (Sopran) fand agil und emphatisch (Rezitativ und Arie »Du Falscher« / »Nur ein Wink«, Kantate VI) in ihre Rolle, schien wegen ihres starken Vibratos jedoch teils zu erregt bzw. war sie schwerer verständlich. Ähnliches galt für David Fischer, der allerdings besser und besser in die Tenor-Partie fand und vor allem in der letzten Kantate (»So geht!« und »Nun mögt ihr stolzen Feinde schrecken«) wunderbar ausdrucksvoll gestaltete.
In dieser Hinsicht zeigte sich die Dresdner Philharmonie (incl. Gästen wie Johanna Lennartz / Orgel und Kreuzorganist Holger Gehring / Cembalo) geradezu opulent. Mit Eva Dollfuß (1. Violine) und Markus Gundermann (2. Violine) staffierte sie Orchestersatz und Basso continuo üppig aus, auch wenn Eva Dollfuß manchmal präsenter hätte sein können. Neben den Oboen übernahmen Hörner (Kantate IV) und Trompeten (Kantate VI) wesentliche Spektralfarben, so daß mit dem Kreuzchor am Ende (Schlußchor »Nun seid ihr wohl gerochen«) eine kleine Feuerwerksmusik gelang. Die Solisten sangen zwar mit, übertönten den Chor als Hauptakteur aber nicht.
14. Januar 2024, Wolfram Quellmalz
Am kommenden Sonnabend gestalten das Vocal Concert Dresden (Leitung: Peter Kopp), Robin Gaede (Orgel) und Pfarrer Holger Milkau die Kreuzvesper.