Domorganistin Mahela T. Reichstatt im Dresdner Orgelzyklus
Nur auf den ersten Blick schien das Programm von Domorganistin Mahela T. Reichstatt gestern in der Dresdner Kreuzkirche blockhaft: einem Abschnitt mit Werken Johann Sebastian Bachs folgte César Francks überbordende Fantaisie en La Majeur, bevor eine Folge mit Stücken von Louis Vierne den Abend beschloß. Was alle drei Komponisten eint bzw. Mahela Reichstatts Blick auf sie, war die (musikalische) Form der Phantasie, wie die in Schleswig tätige Organistin im Vorgespräch erzählte. Vielleicht – so der Höreindruck – war es Phantasie auch im Sinne von Inspiration, also über den musikalischen Aspekt und die Formenhaftigkeit hinausgehend.
»Unter der Stehlampe« ging es vorab diesmal nicht zuletzt um ganz praktische Dinge. Schließlich wirkt die Domorganistin außerdem im Hauptausschuß der Gesellschaft der Orgelfreunde aktiv mit, wo sie den Gastgeber des gestrigen Zykluskonzertes, Kreuzorganist Holger Gehring, kürzlich traf. Aktivität und neue Ideen weiß Mahela Reichstatt offenbar überzeugend zu verbinden – in ihrer Heimatgemeinde hat sie ebenso das Amt der Domkantorin inne und ist für Chöre verantwortlich. Um dem Mangel an Jungen zu begegnen, erfand sie das Format »Kick and sing«. Da die Kantorin selbst begeisterte Fußballerin ist und die Orgel nicht schon immer Berufswunsch Nr. 1 war, verbindet Mahela Reichstatt nun beides, kickt erst mit den Jungen, die dann im Chor singen, und fand binnen kurzem Verstärkung für die Jugendkantorei.
Mit Bach gab es gleich zu Beginn eine Wiederbegegnung, denn Fantasie et Fuga g-Moll (BWV 542) war gerade am Sonnabend in der Kreuzvesper zu hören. Mahela Reichstatt setzte jedoch zwischen die beiden Teile die Choralbearbeitung »Allein Gott in der Höh‘ sei Ehr‘« BWV 663 (aus den Leipziger Chorälen), die sich nicht nur in der Tonart, sondern auch im »Anschluß« fügte. Gerade der Übergang zur Fuge wirkte vollkommen selbstverständlich. Mit einem Aufstrahlen beginnend (das sich ähnlich und doch ganz anders später wiederholen sollte) wandelte sich das phantasievolle Stück, schien im zurückgenommenen Anfangs teil an Mozart zu »erinnern« – wer es so hören mochte, konnte im eingeschobenen Choral gar ein Intermezzo à la Brahms erkennen. Mit der Steigerung der Fuge überwog schließlich nicht nur das Licht, auch die Struktur trat gegenüber der freien Virtuosität deutlicher hervor.

César Francks Fantaisie en La Majeur (Nr. 1 aus den Trois Pièces pour Grand Orgue) dämmerte über tiefen Bässen herauf. Die Freiheit der Phantasie ist hier eine ganz andere, die melodiehafte Blöcke im Wechsel mit Stimmungen, Farben und Tiefen verbindet und sich in der Melodie sogar dem Choral nähert. Das Werk – ursprünglich für ein Konzert im Palais du Trocadéro der Pariser Weltausstellung geschrieben, also nicht für eine Kirche oder einen sakralen Anlaß, ist auch insofern ein Schaustück, da die Organistin das Schwellwerk, also die sichtbaren Flügeltüren einsetzte. Nachdem der stimmungsvolle Schimmer zwischendurch fast endlos schien, überraschte der zweiteilige, klar strukturierte Schlußakkord.

Die Phantasie setzt musikalische wie gedankliche Beweglichkeit voraus, regt sie aber ebenso an. Wohl in diesem Sinne hatte Mahela Reichstatt im letzten Teil ihres Programms eine Sinfonie, wie sie es nannte, mit und aus Werken Louis Viernes zusammengestellt. Einem Pièces de Fantaisie (»Hymne au soleil«, Opus 53, Nr. 3), also einem »Sonnenhymnus«, ließ sie die Berceuse (aus Pièces en style libre, Opus 31, Nr. 2) und das Adagio der dritten Orgelsinfonie (Opus 28, fis-Moll) folgen, den krönenden Abschluß fand sie im Carillon de Westminster (noch ein Pièces de Fantaisie, Opus 54, Nr. 6). Eine Sinfonie oder Suite ohne Scherzo also, aber mit zwei ruhigen, vollkommen unterschiedlichen Binnensätzen. Nachdem die Sonnenstrahlen zunächst an Bach vom Anfang erinnerten, gab sich die Berceuse besonders wiegend, während das Adagio einen innehaltenden Moment kennzeichnete. Für all jene, die es spektakulärer lieben, bot Mahela Reichstatt mit dem berühmten Carillon über die Glocken der Westminsterkirche ein filigranes Flimmern – ebenso funkelnd wie feingliedrig.
7. März 2024, Wolfram Quellmalz
Die nächsten Konzerte des Dresdner Orgelzyklus finden in der Frauenkirche (13. März), der Hofkirche (20. März) und im Kulturpalast (27. März) statt. Am 3. April wird sich Holger Gehring in der Kreuzkirche dem Thema »Ostersinfonie« widmen.
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