Matthäus-Passion mit dem Dresdner Kreuzchor
Manchmal ist es nicht unpassend, sondern sogar besser, wenn man etwas später zur Geburtstagsfeier oder zum Jubiläum kommt. Johann Sebastian Bachs Johannes-Passion wird in wenigen Tagen 300 Jahre alt. Der runde Geburtstag ist für viele Chöre Anlaß, einmal das Werk, das sonst hinter der Matthäus-Passion zurücksteht, aufzuführen. Die Idee ist gut, indes liegt das Problem darin, daß sie in diesen Wochen vielfach umgesetzt wird – zu oft vielleicht, letztlich hat sich die Matthäus-Passion doch als die beliebtere durchgesetzt. Diese ganz auszulassen ist also ebenso unglücklich wie die Häufung der Aufführungen nach Johannes. Der Dresdner Kreuzchor geht sozusagen antizyklisch vor – in diesem Jahr gibt es wie gewohnt die Matthäus-Passion (BWV244), im kommenden Jahr, wenn die gehäuften Jubiläumsaufführungen verklungen sind, soll dann Johannes (BWV 245) kommen.
Gestern und heute konnte und kann Kreuzkantor Martin Lehmann neben einer umfangreichen Instrumentalbesetzung mit Musikern der Dresdner Philharmonie sowie Gästen auch auf fünf Gastsolisten sowie elf Kruzianer vertrauen. Letztere wechseln sich an den beiden Aufführungsabenden in den Soli für Ancilla, Petrus, Judas, Testis und Pontifex zum Teil ab.

Wie schon in den bisherigen Konzerten mit Passionen und Oratorien unter der Leitung von Martin Lehmann fiel die romantische Färbung Bachs auf – eine Lesart, die zwar nicht mit der Bach-Zeit übereinstimmt, jedoch – diese Zeiten sind eben auch vorbei! Vielmehr läßt sich ein romantisierter Bach durch die Rezeptionsgeschichte belegen und kann als relevant, also berechtigt angesehen werden, solange er zu einer klaren Aussage und einem angemessenen Ausdruck führt. Insofern war also die gestrige Matthäus-Passion quasi »historisch korrekt«.
Das Orchester überzeugte daher von Beginn mit einem vollen, runden Klang, der aber über die Besetzungswechsel hinaus flexibel und schlank blieb, frei von klebriger Süßheit war. Mit Johanna Lennartz (Orgel) und Kreuzorganist Holger Gehring (Cembalo) war das Continuo gleichermaßen stark besetzt. Vielleicht wird es künftig sogar noch freier? Immer wieder gelangen die Überleitungen und Anschlüsse zwischen den Teilen flüssiger als im vergangenen Jahr, auch die ab und zu eingefügten kleinen Verzierungen des Cembalos (im Continuo oder Ritornell) wie zwischen der Tenor-Arie »Ich will bei meinem Jesum wachen« und dem folgenden Evangelistentext dürfen in dieser Form gerne fortgesetzt werden! Das Gegenüber von konzertierendem Orchester und Continuogruppe trug wesentlich zur Spannung der Aufführung bei, die noch (oder gerade) in kleinen Formen beglückte, etwa in der schlanken Begleitung von Tenor (»Geduld …«) oder Baß (»Ja freilich will in uns …«) mit der Gambe von Juliane Laake, der Laute von Martin Steuber und dem melodischen Kontrabaß (wenn es kein Violone war) von Razvan Popescu.
Natürlich standen aber die Sänger noch mehr im Mittelpunkt, allen voran der Kreuzchor. Und der präsentierte sich am Beginn eines langen Wochenendes (mit zwei Passionen, Vesper, Ostermette und Gottesdienst) in der mittlerweile schon gewohnt vitalen Form, was heißt, daß er hinsichtlich Harmonik, Homogenität und Farbe jenen Klang formte, den man sich erhofft. Darüber hinaus gelang ihm nicht nur eine ausgezeichnete Verständlichkeit, sondern vor allem eine einnehmende Gestaltung in jeder Hinsicht. Vom Gegenüber der beiden Teilchöre und der kleinen Soprangruppe bis zur unterschiedlichen Auslegung der Inhalte – die Turba-Chöre trugen wesentlich zum Verlauf und dem Erzählungsteil bei, während Martin Lehmanns so unterschiedliche wie ausgewogene Interpretation der Choräle vielleicht ebenfalls noch besser geriet als im vergangenen Jahr (?). Der Kreuzkantor nutzte dynamische Mittel, Tempoverläufe oder variable Begleitungsstärke bis hin zur A-cappella-Form aus, ohne daß sich ein Eindruck des Übertreibens einstellte.
Das Solistenquintett konnte dem nicht ganz entsprechen, weil es ihm ein wenig an Ausgeglichenheit fehlte. Benedikt Kristjánsson dürften viele Besucher zum ersten Mal in der Rolle des Evangelisten erlebt haben. Sein ausgesprochen lyrischer Stil weicht deutlich von dem ab, was man kennt – das ist jedoch Geschmackssache. Seine Auslegung war durchaus sehr emotional und wirkte dabei immer wieder etwas übergestaltet – auch daran mußte man sich erst einmal gewöhnen. Wer offen ist und in Ausdruck und Gestaltung Mut und Hingabe goutiert, hatte hier sicher seine Freude. Trotzdem sollen zwei Punkte nicht unerwähnt bleiben: Einerseits fiel Benedikt Kristjánssons Evangelist ab und zu sozusagen aus der Rolle, wenn er die Gefühlslage anderer bzw. der augenblicklichen Situation sozusagen für den Evangelisten übernahm. So in der Folge: Evangelist »Da sprach Jesus zu ihnen«, Jesus »Meine Seele ist betrübt bis an den Tod« – hier klang der Evangelist selbst sehr verzagt. Mit wunderbaren, aber extremen Piani trug Benedikt Kristjánsson zur Spannung der Erzählung bei, nur war er bei der Schilderung des Todes Jesu so leise, daß ihn ein Teil der Kirchbesucher wohl gar nicht mehr gehört hat. Trotzdem wirkte der gestalterische Ansatz erfrischend. Das anfangs übermäßige Legato legte Benedikt Kristjánsson im Verlauf ab, was nicht zuletzt der Artikulation zugute kam.
Mit Klaus Häger (Jesus) und Tobias Berndt (Arien) waren zwei sehr unterschiedliche Bässe vertreten. Klaus Häger hinterließ zumindest in der gestrigen Aufführung einen ausgesprochen matten Eindruck und konnte den Worten Jesu nur Kraft oder Leben einhauchen, wenn er stark forcierte. Insofern war Tobias Berndt mit seiner deutlich vitaleren Stimme eine gute Wahl für die Besetzung der Arien – auf Teile wie »Mache dich, mein Herze, rein« kann man unmöglich verzichten, weder auf das Stück noch auf das dazugehörige Herz!
Marie-Sophie Pollak polierte mit silbrigem Sopran ihre Arien auf, geriet solistisch aber vor allem in der Höhe etwas scharf. In tieferen Lagen oder mit weniger Erregung traten die Vorzüge der schönen Stimme deutlicher hervor, zudem verschmolz sie geradezu im Duett mit dem Altus. Als dieser sorgte Jonathan Mayenschein für Sternenmomente. Denn er konnte offenbar mühelos zwischen lebhaften, vibratoreichen und ganz sanften Passagen wechseln, in denen er seine Stimme ohne jedes Tremolo engelsgleich verströmen ließ. Das nahm geradezu gefangen, wie gleich am Beginn des zweiten Teils der Passion, den Jonathan Mayenschein mit dem aus dem nichts kommenden »A« (von »Ach, nun ist mein Jesus hin!«) begann und jeden, der nach der kurzen Pause mit den Gedanken vielleicht »woanders« war zurück ins Geschehen sog.
Wie schon erwähnt wurde eine ganze Reihe kleinerer Rollen von den Kruzianern übernommen, wobei man »klein« relativieren muß, schließlich sind Judas (Anton Matthes) oder Petrus (Luca Nozon) ganz wesentlich für das Handlungsgeschehen und bedurften einer feinfühligen, sicheren Auslegung! Ähnlich sorgten auch die beiden Pontifex von Michel Stedtler und Christian Goedicke für eine Brücke zwischen Chor und Solisten.
Nicht vergessen werden dürfen die Farbtupfer der Dresdner Philharmonie, die in den Aufführungen von Passion, Oratorium oder Requiem zu einer neuen Stärke gefunden zu haben scheint. Neben Konzertmeister Wolfgang Hentrich und Julia Susslov (Violinsoli) trugen immer wieder die Bläser bis hin zum Fagott im Schlußchor zum guten Eindruck bei. Der Kreuzchor, der zuvor noch den dissonanten Schrei »Barrabam!« malerisch ausgeformt hatte, entließ das Publikum letztlich mit einem warmen »Ruhe sanft«.
29. März 2024, Wolfram Quellmalz
Heute noch einmal: Johann Sebastian Bach Matthäus-Passion (BWV 244), Dresdner Kreuzchor, Kreuzchor Martin Lehmann, Solisten, 16:00 Uhr, Dresdner Kreuzkirche