Holger Gehring bleibt beim Orgelzyklus in der Osterwoche
Das Gespräch »Unter der Stehlampe« in der Heinrich-Schütz-Kapelle der Dresdner Kreuzkirche findet immer mehr Zuhörer. Manche von ihnen waren wohl gespannt, was diesmal passieren würde, denn Kreuzorganist Holger Gehring spielte das Konzert selbst und hatte keinen Gastorganist eingeladen, also fehlte ihm als Gastgeber und Hauptdarsteller in einem ad hoc ein Gesprächspartner. Allerdings gelang solches bereits in der Vergangenheit, beispielsweise mit per Videokonferenz zugeschalteten Komponisten. Diesmal war der Physiker Pierre Schuy zu Gast, der nebenberuflich als Organist tätig und mit einem sogenannten »C-Schein« als Kirchenmusiker befähigt ist, Gottesdienste zu begleiten. Solche über Liebhaberei hinausgehenden Ambitionen, »Hobby« kann man nicht mehr sagen, sind gar nicht so selten. Daraus ergibt sich für die betreffenden ein Bedarf, Zugang zu Instrumenten zu bekommen und sich weiterbilden zu können, was bei Pianisten zum Beispiel rein praktisch schon viel einfacher ist. Daher erstaunt die Anzahl von 26 Teilnehmern, die gerade beim 48. Interpretationsseminar für nicht hauptberuflich tätige Organisten der Gesellschaft der Orgelfreunde in der Region sind, nicht, und somit trafen ein Dozent und ein Teilnehmer (der am Folgetag selbst ein Konzert in der Christuskirche spielte) im Vorgespräch zusammen. Physik liegt – wie die Naturwissenschaften überhaupt – gar nicht so weit von der Musik, wie mancher glaubt. Schließlich sind viele der Werke Bachs geradezu mathematische Rätsel, den Physiker Pierre Schuy wiederum hatte anfangs nicht zuletzt die Frage der Tonerzeugung und Akustik von Orgeln gereizt.

Im Konzert stand die Musik wie gewohnt allein im Mittelpunkt. Holger Gehring hatte zunächst Werke Johann Sebastian Bachs ausgewählt, die sich per Choralthema direkt auf Ostern und die Auferstehung beziehen oder aber einen öffnenden Charakter haben. So wie Praeludium et Fuga D-Dur (BWV 532), das sich in Stufen fröhlich nach oben schwang. Mit Osterchoralbearbeitungen aus dem Orgelbüchlein (BWV 625 bis 630, aber nicht chronologischer Folge) versetzte Bach die Kreuzkirche in verschiedene Stimmungen zwischen gedämpft (»Erstanden ist der heilge Christ«, BWV 628), mit pastoralem Schimmer (»Jesus Christus, unser Heiland«, BWV 626) bis zum frohen, vom Zimbelstern begleiteten »Christ ist erstanden« (BWV 627).
So konzentriert auf Bach im Zentrum von Ostern blieb es nicht. Vielmehr weitete Holger Gehring den Orgelkosmos in französische und sinfonische Welten. Mit Gabriel Piernés Prélude und Cantilène aus Opus 29 öffnete sich sogleich ein vollkommen anderer Klang, schloß die Melodie (wie einen Choral) in Wellenmotiven sinfonisch ein. Das sinfonische Moment bzw. die Verwebung von Thema und Stimmung war nicht nur beim Hören nachzuvollziehen, sondern konnte auch beim Öffnen und Schließen des Schwellwerks beobachtet werden.
Mit drei Sätzen aus der Symphonie Romane Opus 73 von Charles-Marie Widor blieb es zwar sinfonisch, doch wie von Bach zu Pierné vollzog Holger Gehring erneut einen Klangwechsel, der jetzt mehr Bläserstimmen, fast schon Fanfaren, enthielt. Vorübergehend wurde im Choral ein Liedcharakter vordergründig, meist aber nahmen die schiere Größe, der »Farbumfang« und die vielen Schattierungen gefangen.
Eine Art Gefangennahme kann man auch Jean Langlais’ Incantation pour un jour Saint (auch Lumen Christi / Christus, das Licht) bestätigen, denn in seiner Ornamentik und Modernität überflügelte er Widor noch um einiges. Die Bezeichnung »flächig« ist für Klänge durchaus geläufig, bei Langlais ist man geneigt, sie kubistisch zu nennen. Das war an sich schon an- und aufregend und legte Vergleiche etwa zu Olivier Messiaen nahe, der ein Kommilitone Langlais‘ gewesen ist. Ebenfalls bemerkenswert ist, daß sich sowohl Widor als auch Langlais in ihren Werken auf die Gregorianik besonnen hatten, freilich ohne diese als leicht erkennbares Zitat einzuflechten.
Schließt man nach dem Applaus, war Piernés Modernität offenbar niemandem zu fremd oder zu »schräg«. Mit der Zugabe, einem Allegro in D des früheren Kreuzkantors Gottfried August Homilius, gab es einen in jeder Hinsicht vergnüglichen Ausklang.
4. April 2024, Wolfram Quellmalz
Am Donnerstag (4. April) wurde eine Konzertaufnahme mit Holger Gehring aus der Kirche St. Katharinen in Brandenburg an der Havel auf Radio3 (RBB Kulturradio) gesendet. Sie kann in der Audiothek des Senders nachgehört werden.
Die nächsten Konzerte des Dresdner Orgelzyklus‘ sind fest in der Hand von Domorganisten: kommende Woche spielt Jan Ernst (Schwerin) in der Frauenkirche, am 17. April Andreas Meisner (Altenberg) in der Hofkirche, das nächste Konzert am 24. April in der Kreuzkirche gestaltet Ansgar Schlei aus Wesel.
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