Jeder ist schuldig?

Calixto Bieito bringt Leoš Janáčeks »Káťa Kabanová« auf die Bühne der Semperoper

Calixto Bieito gehört zu den Stars unter den Regisseuren, deren Name allein schon eine Produktion höherzusetzen scheint. Was noch kein Garant für ein ausverkauftes Haus ist – am Sonntagabend blieben in der Semperoper zur Premiere von Leoš Janáčeks »Káťa Kabanová« noch einige Plätze frei. Dabei hat Bieito in Dresden schon zwei wichtige Inszenierungen mit wirkmächtigen (manchmal übermächtigen) Bildern gezeigt, wobei sich neben »Le Grand Macabre« (György Ligeti) vor allem Arnold Schönbergs »Moses und Aron« 2018 als stark erwies.

Ein Kubus und eine massive Schräge erinnerten zwar auch am Sonntag an die Bühne von »Moses und Aron«, jedoch nur auf den zweiten Blick. Aida Leonor Guardia (Bühnenbild), die an der Semperoper derzeit schon die nächste Premiere, Hector Berlioz‘ »Benvenuto Cellini« (29. Juni) vorbereitet, und Eva Butzkies (Kostüme) haben eine Welt geschaffen, die trotz mancher Anklänge oder Symbolübertragungen eigenständig wirkt. Das erste Bild mit einem gefängnisähnlichen Raum und hohen Wänden ringsum gelingt und wirkt schon vor Beginn, denn es gibt keinen Vorhang, der sich hebt. Káťa (eigentlich Katěrina) wirkt wie eine Verlorene, Verlassene, und sie ist sich dessen offenbar von Anfang an bewußt. Amanda Majeski verleiht der zentralen Figur menschliche Züge – damit steht Káťa ziemlich allein da. Denn alle anderen sind bei Calixto Bieito gefühllose, fast rohe Wesen, Getriebene und Geworfene, die ihren Zwängen nicht entkommen können, es aber auch gar nicht versuchen – wo liegt also die Schuld?

Allein und bedroht: Káťa Kabanová (Amanda Majeski), Photo: Sächsische Staatsoper Dresden, © Ludwig Olah

Káťa ist mit dem vermögenden Tichon (Simeon Esper) verheiratet. Ob sie sich jemals geliebt haben? Nach dem »Stand der Dinge« zumindest ist Tichon ein schwacher Mann. Seine herrschsüchtige Mutter ist auf die Liebe oder Zuneigung, die Tichon Káťa entgegenbringt, eifersüchtig und beginnt ein perfides, manipulatives Spiel. Dabei zwingt sie Tichon, zum Markt zu fahren, wie es einst sein verstorbener Vater tat. Káťa ahnt ein Unglück für sich und will ihn zurückhalten oder mit ihm mitfahren, doch Tichon widersetzt sich weder dem Befehl seiner Mutter noch begreift er Káťas Lage.

Diese hat längst begonnen, Gefühle für Boris zu entwickeln. Doch Boris ist seinerseits abhängig von seinem tyrannischen Onkel, einem Kaufmann. Widerstrebend, zumindest anfangs, sich des Ehebruchs bewußt, gibt Káťa sich Boris schließlich hin. Ob sie in der einen Nacht (oder waren es mehr?) während Tichons Abwesenheit eine Erfüllung findet? Kaum. Bald schon gerät das Paar in Bedrängnis, Káťa gesteht öffentlich ihr Verhältnis und wartet, von den anderen verstoßen zu werden. Schließlich geht sie selbst ins Wasser der Wolga.

KÄLTE UND LIEBLOSIGKEIT

Es ist ein bedrückendes Kammerspiel, das hier in nicht einmal zwei Stunden abläuft. Wenige Haupt- und ein paar Nebenfiguren agieren, und Calixto Bieito macht allzu deutlich, daß jede eine »schwarze Seite« hat. Jeder ist auf seine Art schuldig, selbst Boris (Magnus Vigilius), der seinem Onkel (Kurt Rydl) ausgeliefert ist, weil er sonst das Erbe für sich und seine Schwester verliert. Bieito findet noch für ihn noch ein Opfer: Váňa Kudrjaš (Martin Mitterrutzner), dem er einen Kuß aufzwingt – weil wir andere so behandeln, wie wir selbst behandelt worden sind? (Auch die Mutter zwingt Tichon zum Kuß.) Weil Opfer immer zu Tätern werden? Wo bleibt die gesellschaftliche Verantwortung? Calixto Bieito scheint nicht abzuwägen, führt nur vor: Savël Dikój, Boris‘ Onkel, alt, vermögend und mächtig, ist nicht weniger Opfer des Alkohols (selbstverschuldet?) und des Alters (Schicksal?), entwickelt im trunkenen Zustand noch Begehrlichkeiten nach der reichen Witwe Kabanowá (Christa Mayer als Tichons Mutter). Doch es scheint nicht mehr als temporäre Lust zu sein.

Familienkonstellation: Marfa Ignatěvna Kabanová (Christa Mayer), Káťa (Amanda Majeski), Tichon (Simeon Esper), Varvara (Štěpánka Pučálková), Photo: Sächsische Staatsoper Dresden, © Ludwig Olah

Alles, jede Person auf den Sexus zu reduzieren, scheint ein Regieprinzip zu sein, doch gerade das verhindert eine klare, psychologische oder gar menschliche Figurenzeichnung. Gibt es nicht mehr, was uns antreibt? Wofür steht das »Bild« des Triebs? Die Umgebung scheint kalt und öde – kein Wunder, daß es keine Kinder gibt! Gláša (Nicole Chirka) wiegt ein Huhn in ihren Armen.

Die seltsam unsinnliche Inszenierung scheint dem Opernbesucher (oder Káťa) schon von Beginn jede Hoffnung nehmen zu wollen. In dieser Fokussierung liegt ihre Stärke, die durch die fabelhafte Sopranistin deutlich wird und schließlich sogar menschliche Züge gewinnt. Musikalisch wie dramaturgisch macht Amanda Majeski Káťas Monolog im dritten Bild zu einem Höhepunkt. Freilich bleibt sie ohne Hoffnung, denn niemand außer ihr scheint zur Selbstkritik fähig. Oder ist es mehr? Setzt Selbstkritik nicht zunächst Selbstbewußtsein voraus? Das fehlt offenbar jedem und jeder anderen – statt dessen wird jede Handreichung, jede Umarmung, jeder Kuß beschmutzt oder ist eine Farce, und Káťa weiß das im Grunde von Beginn an – desillusionerend!

WANDEL OHNE RETTUNG

Der Kubus bleibt bis zum Ende, nur daß sich die Rückwand vor dem dritten Bild bedrohlich hinter Káťa zu neigen beginnt. Für einen Moment entsteht der Eindruck, jetzt würde sie (die es nicht sieht, weil es in ihrem Rücken passiert) erdrückt. Nein, (noch) geht es glatt. Aus der Rückwand wird ein Becken, daß sich nach einem Unwetter, während dessen alle in einer Ruine Schutz suchen und ihre Geisteshaltung (aufgeschlossen oder abergläubisch) offenbaren, langsam mit Wasser füllt. Káťa steht knöcheltief darin und tritt erst einmal aus dem Wasser, um kurz darauf wieder hineinzugehen – nun ist es die Wolga. Um sich zu »beschweren«, hat sie sich zuvor etwas umgebunden und benutzt dafür den Gürtel Boris‘, den er für den Liebesakt abgelegt hatte.

Unwetter oder gesellschaftliche Unbilden? Savël Prokofjevič Dikój (Kurt Rydl), Fekluša (Sabine Brohm), Marfa Ignatěvna Kabanová (Christa Mayer), Tichon (Simeon Esper), Kuligin (Ilya Silchuk), Gláša (Nicole Chirka), Káťa (liegend: Amanda Majeski), Photo: Sächsische Staatsoper Dresden, © Ludwig Olah

Káťas Ende wird zur Kenntnis genommen, aber weder Tichon noch Boris, die Witwe Kabanowa oder sonst jemand ist in der Lage, die Leiche zu bergen …

MUSIKALISCH STAUNENSWERT

Musikalisch lohnt Janáček eigentlich immer, schon deshalb, weil er sich wie wenige Komponisten bewußt war und versucht hat, ein sprachliches Melos in seiner Musik zu verankern. Die Unsinnlichkeit des Bildes verhindert allerdings manche Brücke oder tonale Spiegelung, obwohl Dirigent Alejo Pérez die Sächsische Staatskapelle zu Höchstleistungen antreibt. Nicht das schwelgerische Schöne, das beklemmende, bedrohliche tritt heraus. Dort, wo in der Szene wunderbare Naturbilder entstehen, bleiben sie auf die Musik beschränkt, dann erklingt die Celesta zum Grau der Bühne, verstärkt das Englischhorn ganz wunderbar die Worte »ich sehne mich nach Dir« – es bleibt dennoch ohne Nachhall. Da auch der Sächsische Staatsopernchor auf seinen (starken) Auftritt im Schlußbild reduziert ist, bleibt den Sängern Gelegenheit, sich mit Stimme und in Gesten hervorzutun. Starke Einzelleistungen und Duette fehlen nicht, ob Kurt Rydls nicht nur moralisch verfallener Savël Dikój oder Štěpánka Pučálková als Varvara, die Káťa zu einer lasziven, homoerotischen Szene drängen will (oder war es ein anderes Spiel?) – letztlich bleibt es beim moralischen Betrachten, unter die Haut geht Calixto Bieitos Ansatz nicht, weil er nicht berührt.

29. April 2024, Wolfram Quellmalz

Leoš Janáček »Káťa Kabanová«, Semperoper Dresden, mit Amanda Majeski, Magnus Vigilius, Christa Mayer, Simeon Esper, Kurt Rydl und anderen, Musikalische Leitung: Alejo Pérez

https://www.semperoper.de

Hinterlasse einen Kommentar