Víkingur Ólafsson in der Elbphilharmonie
Eigentlich steht das Werk über allem, erst recht bei Johann Sebastian Bachs »Goldberg-Variationen« (BWV 988). Aber manchmal lockt der Interpret noch ein bißchen mehr – Víkingur Ólafsson schließt heute eine Tournee ab, die er vor einem Jahr mit diesem Werk begonnen hat. Damals spielte er in der Hamburger Laeiszhalle, gestern und heute noch einmal im Großen Saal der Elbphilharmonie – ausverkauft!

Der Isländer hat sich spätestens mit seiner Einspielung der Étuden Philip Glass‘ einen Namen in der Klassikwelt gemacht. Just am Tag unseres Besuches gestern wurde bekanntgegeben, daß er für die Einspielung der Goldberg-Variationen einen Opus Klassik erhalten wird – den mittlerweile dritten. Im Vergleich zu anderen Pianisten, etwa dem notenbesessenen Daniil Trifonow, einem »Berserker mit autistischen Zügen«, ist Víkingur Ólafsson ganz sicher so etwas wie ein Noten-Nerd, der sich in Partituren vergräbt und darin abtaucht. Doch statt sich zu verstricken oder manische Muster zu evozieren, scheint er bei zunehmender Kenntnis und Erfahrung noch an Freiheit zu gewinnen. Daß sich keine seiner nach eigenen Angaben 96 Konzerte der Tournee bzw. der dabei aufgeführten Goldberg-Variationen gleichen, nimmt man ihm ohne weiteres ab. Es ist verblüffend – Víkingur Ólafsson schafft Spannung, ohne Druck aufzubauen – faszinierend!
Im Großen Saal der Elbphilharmonie hatte sich ein Publikum eingefunden, das wohl gleichermaßen Bach bzw. seinem Werk und einem großen Künstler zu huldigen bereit war. Mit ein paar Ausnahmen waren die meisten mucksmäuschenstill in der sensiblen Akustik – hoch sensibel wie der Pianist, der schon mit der Aria zu Beginn ein Momentum der Ruhe quasi manifestierte. Nicht einfach leise oder piano und langsam – tiefempfunden war dieses Prélude!

Und dann gelang es dem Isländer, über sämtliche Variationen einen ununterbrochenen Spannungsbogen aufzubauen. Schon mit der ersten setzte er einen Impuls, den er aber geschmeidig voranschreiten ließ – eine fabelhafte Artikulation gehört zu den großen Plus Víkingur Ólafssons ebenso wie ein Feingefühl für Rhythmus. Daß er das Pedal dabei recht oft benutzte (eher streichelte), fällt zunächst kaum auf.
Der Rhythmus blieb als Strukturelement ebenso erhalten wie die Spannung oder ist vielmehr deren hauptsächlicher Quell. Tänzerisch schritt Ólafsson voran. Weder er selbst noch sein Publikum ermüdete! Die rasanten Läufe der vierten Variation überraschten schon nicht mehr, denn dieser Pianist führt seine stupende Technik nicht vor, er setzt sie ein, um ein Musik wie ein Gewebe zu flechten oder vielmehr, um etwas, einer Idee (?) nahezukommen. Anfangs zeigte die beherzte rechte Hand, die nach einem Akkord in der Luft verharrte, noch die eine oder andere Betonung an, später blieb sie in den Fluß eingebunden.
Die Freiheit, die Víkingur Ólafsson gewinnt, zeigte sich vor allem in seiner Agogik und der Betonung, nicht nur von Wiederholungen. Noch in Verläufen nahm ein Gewicht plötzlich zu oder es verschob sich zwischen den Stimmen. Daß der dabei keine willkürlichen Effekte »zauberte«, zeigte der Verlauf: Ólafsson schuf ausgesprochene Spannungshöhepunkte, wie Variation Nr. X, die einem Perpetuum mobile glich. Zwar riß die Spannung nie ab, es blieben aber kleine offene Stellen, winzige Fermaten, die einem Atemzug entsprachen, oder Pausen, die gruppierten und schichteten. Die Variationen XIII, XXI oder XXVI schienen gar einen Neuanfang zu definieren.

Nur einmal, mittendrin (XIV) verharrte Víkingur Ólafsson kurz, als müsse er sich sammeln – Filmriß? Die Freiheit schien riskant, belohnte das Publikum aber mit unerhörtem: schon die Variation VI offenbarte über eine nonchalante Gelassenheit hinaus die Frische einer Caprice, dann wieder waren die dynamischen Steigerungen geradezu unerhört (XV). Asynkopen und punktierte Rhythmen flimmerten berauschend, und in Variation Nr. XIX zeigte der Isländer, daß nicht Beethoven, sondern Johann Sebastian Bach den Boogie-Woogie erfunden hat!
Die letzten vier Variationen folgten nicht nur dicht auf dicht, sie zeigten eine einzigartige Steigerung, waren Brüder und Schwestern, untrennbar! Am Ende setzte Víkingur Ólafsson noch eine brillante Linie darüber …
… und kehrt zur Aria zurück, die (fast) wie am Anfang klang. Das allein schien nicht schlüssig, denn so ein Abend verändert doch jeden – Pianisten wie Zuhörer. Wie könnte man da an den Ausgangspunkt zurück? Nebenbei: während sich das Programmheft nicht für eine Spieldauer entscheiden konnte und zwei angab (80 und 70 Minuten), spielte Víkingur Ólafsson exakt so lang, wie er im Interview gesagt hatte: Auf die Frage, ob es eine Variation gebe, bei der man besonders hinhören solle, lautete die Antwort: »Ich wünsche mir, daß Sie 77 Minuten lang genau hinhören!« (Interview mit Anne-Kristina Laue im Programmheft). Zufall oder Absicht? Also ein Nerd? Das sollten wir bei einem weiteren Termin überprüfen …
25. Juni 2024, Wolfram Quellmalz

Johann Sebastian Bach, Goldberg-Variationen (BWV 988), als CD oder LP
Philip Glass: Klavierwerke, Glassworks (Opening), Etüden Nr. 2, 3, 5, 6, 9, 13-15, 18 , 20, sowie mit dem Siggi String Quartet: Glass / Badzura: Glassworks (Opening), Etüde Nr. 2
beide erschienen bei Deutsche Grammophon