»Ich schlief, da träumte mir«

(Wiederhergestellter Artikel – die Rezension war bereits erschienen, fiel aber einem Datenverlust zum Opfer. Nun ist der Text wieder verfügbar!)

Neue CD von Anne Marie Dragosits

Trotz des beklagenswerten Sinkens der Qualität von Radiosendern, vor allem der sogenannten »Kulturradios«, stößt man hin und wieder auf Funde, hörenswerte Stücke. Wie Anne Marie Dragosits Einspielung »Ich schlief, da träumte mir«. Wir entdeckten die CD zufällig beim »nebenbei hören« – »Pianomania« fängt doch beim Cembalo an!

Zunächst beeindruckte der wunderbare Klang des Instruments, dazu gefällt die ausnehmend feine und galante Werkauswahl. Bei ersterem handelt es sich um eines der wenigen noch erhaltenen (spielbaren) Originalstücke, ein 1728 von Christian Zell in Hamburg gebautes Cembalo – solche erhaltenen Raritäten sind in ihrer Klangfarbe und Individualität begeisternd und einmalig! Die Cembalistin Anne Marie Dragosits meint, daß dieses Instrument einen maßgeblichen Einfluß auf das Programm der CD hatte. Sie schätzt vor allem den charakteristischen Klang, der Klarheit und Transparenz der barocken Zeit wiederspiegelt. Während das untere Manual mit warmem, sanglichen Ton ausfällt, scheint das obere im Vergleich nasaler, doch fehlen ihm nicht die lyrischen Qualitäten. Werden beide gekoppelt, offenbart das Instrument eine rauschende Klangfülle. Dazu kommen ein »charmanter Lautenzug« und ein »glockenklarer Vierfuß« – so zumindest empfindet es Anne Marie Dragosits.

Doch es läßt sich auch leicht nachempfinden – genau diese Klarheit, Sinnlichkeit, Gesanglichkeit und Sanftheit hört man der Aufnahme an, die sich – ganz wie der Titel es verspricht – den Träumen zuwendet. Und nicht nur denen – die Stücke tragen teilweise Namen wie »An den Schlaf« (Carl Philipp Emanuel Bach) oder sommellier (zwei »Schlummer« von Christoph Graupner sind auf der CD zu finden), aber auch réveille (das Wecken, Wilhelm Friedmann Bach). Programmatisch findet Anne Marie Dragosits darin nicht zuletzt mythische Gestalten wie Lethe, Thanatos oder Hypnos.

Die [mythischen Gestalten] nehmen zwar gefangen, engen aber nicht ein – im Gegenteil: es scheint, als erzähle Anne Marie Dragosits auf dem wunderschönen Zell-Cembalo vom Aufbruch und der Befreiung. Nicht einer revolutionären Befreiung mit großem Tumult, sondern der geistigen Freiheit – eine, die neue Formen kreiert, neue Ideen gebiert, die feinfühlig ist. Und so wandert der Hörer zur Familie Bach – Vater Johann Sebastian und die Söhne Carl Philipp Emanuel sowie Wilhelm Friedemann sind auf zu hören – aber auch zu solchen Größen ihrer Zeit wie Christoph Graupner oder Johann Balthasar Kehl. Leipzig hat seinem »Sohn« Johann Kuhnau gerade im Sommer ein eigenes kleines Musikfest gewidmet.

Anne Marie Dragosits (Cembalo) »Ich schlief, da träumte mir«, mit Werken von Carl Philipp Emanuel und Wilhelm Friedemann Bach, Christoph Graupner, Johann Kuhnau und anderen, erschienen bei Encelade

Zum (wieder)entdecken lädt schon die CD ein, die nicht nur mit Wilhelm Friedemann Bach erfrischt und für Munterkeit sorgt. Die erste sommellier Christoph Graupners lädt gleich darauf zum Ausruhen ein – ganz klar ist dies nicht die Erschöpfung nach der Völlerei, sondern eine kontemplative, mußevolle Ruhezeit. Wer erfrischt genug ist, den laden Anne Marie Dragosits bzw. Johann Kaspar Fischer quasi zum Tanz – drei Sätze aus der Suite »Uranie (Ein musikalischer Parnassus)« schließen sich an Graupners Träumerei an.

Gesungen werden darf aber auch – der Titel der CD kommt nicht von ungefähr. Carl Philipp Emanuel Bach ist mit Variationen über das Lied »Mir schlief, da träumte mir« darauf vertreten, Johann Balthasar Kehl phantasierte über »Wie schön leuchtet der Morgenstern«, aus Johann Sebastian Bachs Musicalischem Gesang-Buch (Schemelli) ist »Komm süßer Tod« (BWV 478) dabei. Das wunderschöne Zell-Cembalo klingt übrigens nicht nur so, es sieht auch wunderschön aus. Hier gefällt die Aufmachung der CD zusätzlich, denn auf der Hülle und im Beiheft sind zahlreiche Bilder zu sehen – sie alle sind Reproduktionen des reichverzierten Cembalos!

9. September 2022, Wolfram Quellmalz

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