Spiel-Räume für Violoncello solo

»Fremdbestimmt 4« mit Matthias Lorenz

Im vierten der »fremdbestimmt«-Konzerte von Cellist Matthias Lorenz stand diesmal das Thema »Sound« im Mittelpunkt. Die Fokussierung war wie das gesamte Programm eine fremde Vorgabe: je ein Komponist ist jeweils eingeladen, nicht nur ein eigenes Werk hinzuzufügen, sondern den ganzen Abend zu programmieren. Am Freitag sorgte Friedemann Schmidt-Mechau für die Zusammenstellung.

»Sound«, sollte sich zeigen, meinte nicht nur einen typischen, charakteristischen Klang, wie man den Begriff kennzeichnend verwendet, wenn es um Werke oder Klangkörper geht. Vielmehr zielte es auf den Klang als elementare Basis, der zerlegt und (neu) zusammengesetzt werden kann, und der einen Raum braucht. Leider war es im geh8, wo wir schon oft Konzerte von Matthias Lorenz erlebt haben, auch außerhalb recht laut, einerseits wegen der Lebhaftigkeit des zum geh8 gehörigen Sommergartens, vor allem aber wegen eines etwas weiter entfernt stattfindenden Open-Air-Konzerts. Vor allem beim zweiten der Stücke, Johannes Schöllhorns »grisaille«, das den Raum sehr leise erkundete, wirkte sich dieser Nachteil aus, denn zwar waren alle Noten und Nuancen zu hören, doch diese »im Kopf« zu einem lebenden Gebilde zu verknüpfen, war schwer möglich.

Konzentrierter Raumklang, Photos: NMB

»Splitting 27« von Michael Maierhof, 2009 entstanden, setzte dem Geräusch von draußen zu Beginn jedoch einen präsenten, massiven Sound entgegen. Hier wurde das Cello nicht nur mit dem Bogen gestrichen, der Spieler muß laut Anweisung außerdem einen Kunststoffbecher mit Glaskugeln auf die Saiten drücken, so daß die Schwingungen übertragen werden. Michael Maierhof unterscheidet zudem drei Tongruppen oder Klangstufen, die ein »Brizzeln« ebenso umfassen wie ein Rauschen. Manches steigerte sich durch die Verstärkung enorm, wenn der Becher zum Schalltrichter wurde und das Rauschen zum Brüllen wuchs. Die »Spaltklänge«, wie Michael Maierhof sie nennt, überraschen mit ihrer Fremdartigkeit, die an elektronische Musik(verfremdungen) erinnerten. Jedoch war dies kein permanenter Eindruck, zudem erwies sich der Klang als sehr wandelbar. Mitunter klang das »Brizzeln« gar, als würde jemand gurgeln. »Splitting 27« überraschte mit einem regelrechten Schlußakkord: Anders als die anderen Stücke des Abends, die ein eher offenes Ende hatten (mit Ausnahme von »Glacier«, bei dem es aber eine Art thematisches Ziel gab, auf welches noch der Klang zulief), schien es, als sei hier alles gesagt.

Johannes Schöllhorns »grisaille« (grau, 2013 entstanden) stellte im Vergleich den wohl größtmöglichen Kontrast an diesem Abend her, denn der Komponist hatte die Graustufen bis in feinste Nuancen verfolgt. Das Besondere dabei: in 96 Einheiten oder Sequenzen mit einer Dauer von je fünf bis sieben Sekunden gibt der Komponist dem Spieler zwar bestimmte Töne oder Pulse vor, die charakteristisch sind, bei deren Ausführung aber vieles dem Interpreten überlassen bleibt bzw. variabel ist. Dies führte in eine zauberische Atmosphäre, in der sich Traumgebilde zeigten, oder Szenen, wie wenn Tropfen auf eine Wasseroberfläche schlagen und Blasen entstehen. Um diese Feinheiten und ihren Zusammenhalt noch einmal zu erspüren und gerade den räumlichen Aspekt zu erfahren, wäre eine Wiederaufführung unter »ruhigeren Umständen« wünschenswert. (Die Erfahrung zeigt, daß die Chancen dafür gegeben sind.)

Mit »Morgenlachen« von Friedemann Schmidt-Mechau gab es vor der Pause eine Wiederbegegnung. Das Stück hatte Matthias Lorenz bereits im März 2020 kurz vor dem Beginn der Pandemie im Rahmen eines Portraitkonzertes des Komponisten im Projekttheater Dresden gespielt. Friedemann Schmidt-Mechau hat ein System entwickelt, indem er zunächst aus den Bewegungsabläufen des Cellospielers neun typische Grundbewegungen ermittelte, welche er anschließend verwendete, um sie neu zusammenzusetzen und einen Klang zu kreieren. In sechzehn Ausschnitten erklang das »Morgenlachen« am Freitag noch einmal. Der Beginn, an sich eher schrill (Kratzen), bald in einen Ruhepunkt fallend, bewies im Wiedererleben eine überraschende Vitalität! Matthias Lorenz bzw. Friedemann Schmidt-Mechau nahmen die Zuhörer mit auf eine Reise der Klangerforschung, die ein ganzes Tonspektrum bis zum Klopfen oder Tropfen bereithielt. Dabei wurde das Violoncello meist »fremd« erforscht, gewohnte Klänge gibt es kaum, eher versteckt, dafür um so mehr zum Beispiel perkussive Eindrücke.

Graciela Paraskevaídis’ »… Il remoto silenzio« (»Die ferne Stille«, 2002) hatte zumindest dem Titel nach an diesem Abend eine übergeordnete Bedeutung. Aus dieser Stille entwickelten sich jedoch rhythmische, klopfende Intervalle. Gerade in Tonwiederholungen zeigte sich ein wandelbarer Klang, wobei (das sollte sich im letzten Stück noch deutlich verstärken), auch die Wahrnehmung einer Veränderung unterworfen ist. Melodiöse Abschnitte erinnerten zunächst an einen Choral, die in der Wiederholung mit veränderter Dynamik einen hymnischen Charakter annahmen.

Stetiges, unaufhaltsames (?) Absinken in »Glacier«, Photos: NMB

Den Abschluß bildete »Glacier« von Alvin Lucier (2009). Der Komponist hatte aus einer graphischen Erfassung von 30 Gletschern, die über 24 Jahre in ihrem Wachsen, stabilen Bestehen bzw. Abschmelzen dargestellt werden, eine Tonfolge sublimiert, die jedes Jahr mit einem stehenden Ton abbildet. Wenig überraschend – das Abschmelzen der Gletscher ist bekannt – ist es eine im wesentlichen (aber nicht ausschließlich) sinkende Tonfolge, die aber eine musikalische Eigenständigkeit entwickelt. Beim Hören ist der Gedanke an den Ursprung der Komposition also nicht permanent präsent oder erforderlich, vielmehr wird die Klangentwicklung selbst, gerade weil sich im Raum und durch den Dauerton Veränderungen in der Wahrnehmung ergeben, vordergründig wahrnehmbar. (Den Zusammenhang verdrängt selbstverständlich wohl keiner der Zuhörer.)

25. August 2024, Wolfram Quellmalz

Die kommenden Konzerte mit Matthias Lorenz finden Sie hier:

https://www.matlorenz.de/

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