Collegium 1704 in Prag mit einem (fast) brandneuen Zelenka
Prag hat sich – unsere Leser wissen es längst – zu einem Lieblingsbesuchsort der Neuen (musikalischen) Blätter entwickelt. Ein paarmal im Jahr besuchen wir die Stadt, die über ein nicht nur reiches, sondern auch lebendiges Musikleben verfügt. Ganz besonders spürt man dies im Bereich der sogenannten Alten Musik. Und so entdeckten wir bei einem unserer Aufenthalte beim Collegium Marianum im Sommer zwei Ankündigungen für das Collegium 1704, das am 15. September beim Dvořákova Praha
[unser Konzertbericht: https://neuemusikalischeblaetter.com/2024/09/18/gluckliches-tschechien/%5D
und am 1. Oktober in der Sankt Simon und Judas Kirche (Kostel Sv. Šimona a Judy) angekündigt war. Gestern besuchten wir auch das zweite der Konzerte.

Die vom Sinfonieorchester Symfonický orchestr hl. m. Prahy (»FOK«) veranstaltete Reihe hatte Václav Luks eingeladen, der die Solisten wieder aus den Reihen seines Collegium Vocale 1704 stellte. Wobei diese weniger in den Vordergrund traten, sondern sich mit einzelnen instrumentalen Stimmen verbanden oder einen zwar homogenen, aber sehr individuellen Chor bildeten, bei dem also zum Beispiel die zwei unterschiedlichen Soprane noch charakteristischer auffielen, als man es sonst oft gewohnt ist.
Leonardo Leos Miserere begann mit einer Anrufung (»Erbarme dich meiner, Gott«), zunächst im Sopran, gefolgt bald vom Alt, die dem schlanken Basso continuo gegenüberstanden, aus dem besonders die Stimme Orgel heraustrat. Obwohl die emphatische Spannweite zwischen den vielen Versen groß ist, gelang Václav Luks und den beiden Collegia eine konzentrierte Wiedergabe, die den aufkommenden Jubel enthielt aber ebenso zur Ruhe fand. Schon hier setzte Václav Luks Pausen, ob Fermaten oder Generalpausen, sehr bewußt und im Sinne der Gestaltung. Somit gewann das Miserere eine zu Herzen gehende Kraft – um so schöner, daß das Stück (das kürzeste des Abends) am Ende wiederholt wurde.
Mit dem Statio quadruplex pro Processione Theophorica (die vier Stationen einer Theophorischen Prozession, ZWV 158) von Jan Dismas Zelenka stand danach ein ganz besonderes Werk auf dem Programm. Es ist eine der frühesten Kompositionen, von der bis vor kurzem nur der erste Teil aus dem Bestand der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden bekannt war, bis 2021 der Isländische Zelenka Forscher Jóhannes Ágústsson im Nachlaß des Wiener Organisten und Hochschulprofessors Rudolf Scholz eine vollständige Abschrift des Werkes entdeckte. Zelenka hatte seinem Werk später (in Wien) einen Basso continuo hinzugefügt, während das Werk ursprünglich nur für eine a-cappella-Besetzung in Dresden entstanden war (vermutlich wegen eines Verbots instrumentaler Musik zu bestimmten Zeiten wie Trauer oder Passion, der genaue Anlaß für Zelenkas Statio quadruplex pro Processione Theophorica ist nicht bekannt).
In dieser Form hat das Collegium 1704 das Werk bereits ein paarmal aufgeführt und wir damit seiner Mission um die Musik des Böhmen gerecht. Den (im Vergleich mit Leos Miserere) knappen Text hat Zelenka um einiges farbiger umgesetzt. Im Sopran geradezu lieblich begonnen, wuchs das Stück durch den zunächst fugierten Chor und entwickelte eine geradezu betörende Wirkung. (Ob das eingeplant war?: Die rechts und links des Altars illusionistisch-plastisch gemalten Engel schienen lebendig zu werden, fanden verschiedene Konzertbesucher unabhängig voneinander.) Das Collegium Vocale 1704 begeisterte hier ganz besonders mit seiner geschmeidigen Klangkraft, mit dem es die immer wiederkehrenden Fugenformationen auskleidete, und den sich in lichte Höhe schwingenden Sopranen.

Daß das Orchester »nur« einen Basso continuo darstellte und auf konzertierende Instrumentalisten verzichtet wurde, paßte zu den Werken, zudem ließ Václav Luks auch hier keinen Mangel an Farbe oder Ausdruck aufkommen.
Mit einem Stabat Mater in der Vertonung von Domenico Scarlatti durfte sich diese Qualitäten, vor allem der im Chor verdichteten, dann wie aus ihm heraustretenden individuellen Stimmen, noch einmal präsentieren. Erneut zeigte sich: auf Überwältigungseffekte kann man oft verzichten (so daß man sie gezielt, aber selten einsetzt) – viel Wirkung hängt von der Ruhe ab, vom gemäßigten Tempo und den Pausen, in denen ein Ton verklingen darf! Im Charakter führte dieses Piano, das Schweben dennoch nicht zu einem Einerlei, denn das Collegium 1704 fand bis zum abschließenden »Amen« auch kraftvolle Textunterstreichungen.
2. Oktober 2024, Wolfram Quellmalz
Am 16. Oktober beginnen die Dresdner Konzerte der Musikbrücke Prag – Dresden (19:30 Uhr, Annenkirche Dresden). Wir planen, kurz darauf zu einem Kammerkonzert ins Prager Vzlet zu reisen. Mehr davon demnächst auf unserer Seite.