Collegium 1704 mit Josef Myslivečeks »Abramo ed Isacco«
Der »Tatbestand« oder Vorwurf, wenn sich sakrale und weltliche Musik zu sehr annähern, hatte schon Giovanni Battista Pergolesi getroffen, auch Händel kannte ihn. Einerseits soll (»darf«) Kirchenmusik nicht zu aufwühlend, nicht zu dramatisch sein, andererseits soll sie berühren. Viele der Geschichten, die die Bibel erzählt, eigneten sich hervorragend für Opernstoffe. Insofern wundert es im Grunde nicht, wenn heute (wieder) Ideen oder Ansätze verfolgt werden, Oratorien über die Musik hinaus szenisch oder durch Tanz darzustellen.

Manches ist fast schon unverständlich oder schwer nachzuvollziehen. Wie die Geschichte des »gebundenen Isaac«: Abraham, der Vater, erhält den göttlichen Befehl, seinen Sohn Isaac zu opfern, er soll seine Gottesfurcht bzw. seinen Gehorsam unter Beweis stellen. Erst kurz bevor es zur Ausführung kommt, erscheint ein Engel als Bote und verhindert das Opfer – Abraham wird belohnt, Isaac bleibt am Leben. Die Begebenheit wird nicht nur in der Tora erzählt, sondern ist in jüdischen, christlichen und islamischen Texten verbreitet.
»Abramo ed Isacco« war Josef Myslivečeks letztes Oratorium (1776 in Florenz uraufgeführt). Er läßt die Begebenheit nicht von einem außenstehenden Erzähler berichten (wie dem Evangelisten in den Passionen oder Oratorien), sondern die betroffenen Personen selbst berichten: Abramo, Isacco, dessen Mutter Sara sowie den Engel und Gamari, ein Freund Isaccos, erzählen als Betroffene ganz unmittelbar, was geschieht und wie es ihnen ergeht. Und das hochemotional! Schon die unterschiedliche Form, wie Vater und Mutter das bevorstehende Opfer durchleben, ist höchst individuell. Emotionale Ausbrüche, geradezu feurige Arien, mit Verve musizierte Stücke – das ist in der Tat nah an der Oper und hat 1777 bei einer Aufführung in München auch den jungen Mozart tief beeindruckt.
Václav Luks hatte für die Aufführung am Mittwoch Sänger gefunden, die ausnahmslos großartig in die Rollen schlüpften. Tenor Michele Angelini hatte als Abramo nicht nur eine in der Figur äußerst schwierige Rolle, sondern zum Teil auch lange, anspruchsvolle Arien. Ihm gelang die ambivalente Gefühlslage des Vaters, der am Ende schildert, wie er sich quasi nicht mehr als er selbst, sondern als »Werkzeug« fühlte, aber doch von einem Geist beseelt war, ganz hervorragend! Verblüffend war seine beständige Verständlichkeit. Kateryna Kasper (Sopran) fand für Isacco lyrische, sanftmütige, zartfühlende (knabenhafte) Töne und konnte vor allem in den unteren Lagen noch an Einfühlsamkeit gewinnen und zu Tränen rühren, während sie die strahlende Höhe etwas mühte. Als Sara schlüpfte Mezzosopranistin Paula Murrihy auf höchst virile, agile und leidenschaftliche Art in die Rolle der Mutter, die zunächst um ihr Kind bangt, in ihrem Aufruhr aber auch eine Spur Zorn fühlen mag, dann versucht, das (vermeintliche) Schicksal anzunehmen – keine Wahnsinnsarie läßt sie ins Verlorensein abstürzen und ihr Leben (oder ihre Klarheit) beenden, insofern also ist »Abramo ed Isacco« doch keine Oper.
Matthias Winckhler, den wir zuletzt mehrfach in Hans-Christoph Rademanns Bach-Projekt (Leipziger Kantatenjahrgang ab 1723 mit der Internationalen Bachakademie Stuttgart) erlebt haben, führte als Gamari die Schönheit und den Wohlklang seines Basses vor, nahm aber auch leidenschaftlich am Geschehen teil. Mit am brillantesten blieben uns aber die wenigen (viel zu wenigen!) Auftritte des Engels im Ohr. Eleonora Bellocci gestaltete sie mit lichtem, hellem Sopran, einer Himmelsstimme mit vibrierendem Timbre, die jedoch immer einen Hauch Furor und Schärfe in sich trug, fast beängstigend war. Gerade diese unterschwellige Schärfung (Geschmackssache) konnte begeistern. Bedenke man doch, wie es wäre, tatsächlich einem Engel zu begegnen – fühlte es sich an wie Erlösung und paradiesischer Sonnenschein? Oder wäre es nicht doch auch nicht wenig beängstigend?
Fast schon schade, daß Mysliveček dem Chor so wenig übertragen hat. Das Collegium Vocale 1704 mußte sich, von den vorderen Seitenemporen singend, auf die Rolle der Hirten sowie den Schlußchor beschränken, vollführte das aber mit gewohnter Souveränität und Individualität – ein geschlossener Chor, bei dem man jede Stimme heraushören kann.
Auch rein instrumental war dieses Oratorium beglückend. Interessant zum Beispiel, da es Passagen enthielt, welche die damals (im Orchester) noch recht neuen Klarinetten in Szene setzte, die hier aber mehr für Färbung oder Schattierung der Sänger sorgten, als daß sie solistisch bzw. im Duett wie Fagotte (zur Erzählung Abramos, großartig!), Flöten oder Hörner und Trompeten mitwirken durften.

Das Orchester ging mit der Zeit und verwendete modernere Bögen als bei Zelenka, dessen Tauftag sich am Mittwoch jährte, und blieb um Konzertmeister Ivan Iliev musikalisch vital. Dabei bot das Oratorium einmal weniger herausgestellte Soli, sondern unterstrich Texte oder hob, etwa mit pochendem Baß in den Accompagnati, subtile Schichtungen. Václav Luks lotste es sicher durch Partitur und aufregende Geschichte, so daß sich eine ungeheure Spannung aufbaute (trotz phänomenaler Arien gab es zum Oratorium in der Kirche weder Zwischenapplaus noch »Da-capo«-Rufe), vermied aber sicher eine allzu opernhafte Überemotionalisierung. So war der Musikgenuß vielleicht noch unmittelbarer und erlaubte, Mysliveček ein wenig »wiederzuentdecken«. Schließlich stand er in den letzten Jahren immer wieder im Programm des Collegiums und man erkennt mittlerweile hier und da seinen Personalstil. Und kein Wunder, daß Mozart dies gefallen hat, flocht der Komponist doch schon im langsamen Teil der Sinfonia ein Menuett ein!
So ging es Abramo und Isacco ein wenig wie Idomeneo und Idamante bei Mozart – das erst befohlene Opfer wurde verschont.
17. Oktober 2024, Wolfram Quellmalz
Nächstes Konzert der Musikbrücke Prag – Dresden: »Requiem«, mit Werken von Jan Dismas Zelenka und Wolfgang Amadé Mozart (7. November, 19:00 Uhr, Annenkirche Dresden). Wir besuchen zuvor die kammermusikalische Reihe im Vzlet Prag (»Cantigas de Santa Maria«, 23. Oktober).