Mystisches Werk als große Messe

Kantorei der Kreuzkirche Chemnitz führte Bachs h-Moll-Messe auf

Johann Sebastian Bachs h-Moll-Messe umflort seit jeher ein wenig Geheimnis – warum und zu welchem Anlaß ist sie wirklich entstanden? Nur einzelne Daten sind bekannt, vom weihnachtlichen Sanctus, der späteren Bewerbungsfassung um einen Titel am Sächsischen Hof (Kyrie und Gloria) bis zur nachträglichen Verwertung in einem (wiederum) weihnachtlichen Gloria – ungeklärt bleibt, mit welchem Grund bzw. Ziel der Protestant Bach die über Jahrzehnte entstandenen Teile der Messe schließlich vervollständigte. An der endgültigen Fassung, zumindest der Revision, war Carl Philipp Emanuel beteiligt, der das Andenken an seinen Vater manches Mal »gelenkt« hat. Es bleibt also vieles im unklaren.

Was uns nicht davon abhält, die Große Messe BWV 232 ebenso regelmäßig zu hören wie das Weihnachtsoratorium und die Matthäuspassion, oder Händels Messiah – ein exklusiver Kanon. Verständlich, daß auch Laienchöre und Kantoreien aktiv daran teilhaben wollen. In der Kreuzkirche Chemnitz gab es gestern eine Aufführung unter der Leitung von Steffen Walther (Kantor und Organist der Kreuzkirche), an der neben der eigenen Kantorei bewährte Solisten (Marie Hänsel / Sopran, Julia Böhme / Alt, Patrick Grahl / Tenor und Wolf Matthias Friedrich / Baß) sowie das Chemnitzer Barockorchester beteiligt waren.

Pfarrerin Dorothee Lücke freute sich besonders auf die Aufführung, denn die Kreuzkirche hat ein Jubiläum zu feiern: vor 70 Jahren wurde sie nach dem Wiederaufbau wieder geweiht.

Der Kantorei kann man nicht nur eine erstklassige Vorbereitung, sondern auch eine hohe Leistungsstärke attestieren. Der Chor bewahrte über die lange Distance auf bemerkenswerte Weise seine Ausgeglichenheit und Ausdruckskraft. Erst gegen Ende spürte man hier und da die Belastung. Dieses »Stehvermögen« hätte Steffen Walther sogar noch mehr nutzen dürfen, um den geschlossenen Eindruck noch zu stärken. Die (kleinen) Pausen nach jedem Teil, allerdings zumindest teilweise dem Nachstimmen der Barockinstrumente geschuldet, wirkten dem etwas entgegen. Wie auch die beiden Osanna-Teile im Sanctus noch dichter angeschlossen hätten sein können. (Der freudige Ausruf ist ja normalerweise eine bekräftigende Schlußzeile, Bach hat sie durch die Separierung nur noch mehr betont.) Im Gloria-Teil war dies zum Beispiel gelungen, als der Chor am Ende mit »Cum Sancto Spiritu« (Mit dem Heiligen Geiste) bündig vom Baß übernahm. Überhaupt zeigte sich in Verläufen, besonders Steigerungen, diese gestalterische Qualität: in Fugen sauber beginnend, wuchs die Ausdruckskraft des Chores, bis Blechbläser und Pauken hinzutraten, in eine darstellerische Gesamtheit, ohne daß sich ein Effekt der Übersteigerung oder Überforderung einstellte! Und das »hielt« vom ersten Kyrie bis zum abschließenden Dona nobis pacemChapeau!

Unterstützt wurde der Chor vom Chemnitzer Barockorchester, das sich mit einem Stamm an Musikern für Projekte jeweils neu findet und einstellt. Bemerkenswert auch deshalb, weil an wichtigen Positionen (Continuoorgel: Julia Schmielewska-Ulbrich und Naturhorn / Solo: Lukas Nickel) kurzfristig zwei Einspringer gebraucht wurden. Nicht nur als Unterstützung der Sänger, auch in den instrumentalen Stimmen (besonders Oboe / Oboe d‘ amore: Eleonora Trivella und Blechbläser, Solo-Trompete: Sophia Kälber) klang das ausgesprochen schön und sauber!

Aus dem Solistenquartett traten besonders Julia Böhme und Patrick Grahl heraus. Der Tenor meisterte seinen Part mit gestalterischer Kraft mühelos, wogegen sich Marie Hänsel anfangs offenbar »finden« mußte. Im Laudamus te zumindest klang ihr Sopran noch ungewohnt dünn, bevor er ab dem Duett mit dem Tenor (»Domine Deus«) präsenter wurde. Geradezu berückend (wieder einmal) der Alt von Julia Böhme, der klangschön durch alle Register schimmerte, Höhe nicht missen ließ und gerade dunkel noch leuchten konnte. Nicht glücklich war zumindest an diesem Tag der Baß von Wolf Matthias Friedrich, dem es an Melodiösität fehlte. Auch in der Gestaltung von Piani und beim Forcieren (eher wie rufend) blieb er matt.

28. Oktober 2024, Wolfram Quellmalz

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