Spannung und Freude

Andrew Manze kehrte mit Beethoven zur Dresdner Philharmonie zurück

Der Brite Andrew Manze gehört zu jenen Experten, die sich einerseits einer Spezialdisziplin verschrieben haben (sogenannte Alte Musik und historische Aufführungspraxis), diese aber nicht allein mit Originalklangensembles ausüben, sondern ihr Wissen und Können auf inspirierende Weise Sinfonieorchestern und deren Publikum zugänglich machen. Seine Besuche in Dresden haben dies schon mehrfach gezeigt. Gleichzeitig wagt sich Andrew Manze nicht nur an modernere Musik als die »Alte«, sondern schafft dabei Verständigungsansätze, wie mit Benjamin Brittens War Requiem in Hannover (2018).

Am Wochenende hatte sich die Dresdner Philharmonie für den historischen Jahrestag der Maueröffnung Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie aufs Programm gesetzt. Auch 1989 war das Werk mit der »Ode an die Freude« aus diesem Grund aufgeführt worden.

Andrew Manze Photo: © Benjamin Ealovega

Jedoch galt es zuerst der Musik – keine Gedenkveranstaltung, keine Reden, dafür zwei Werke vor der Pause: Antonio Lottis Crucifixus für Chor a cappella aus dem Credo in F sowie Paul Hindemiths Orchester-Suite »Nobilissima visione« (Noble Vision). Beide Werke waren für die Philharmonie übrigens neu. Und Andrew Manze verstand es, die 220 Jahre zwischen ihnen zu überbrücken, schloß Hindemiths Ballett-Suite direkt an Lottis liturgischen Text, als gehörten sie zusammen. Der Slowakische Philharmonische Chor (Einstudierung: Jan Rozehnal) und der Philharmonische Chor Dresden (Iris Geißler) fanden zu erstaunlicher Homogenität und führten Lottis Werk vor, das binnen knapper drei Minuten nicht nur Licht aufscheinen, sondern die ganze Chromatik aufhellen läßt. Die Hebung am Ende der Zeile »passus et sepultus est« schien bereits auf ein gutes oder höheres Ende vorauszuweisen (schließlich geht es um die Kreuzigung).

Das ließ sich auch in Paul Hindemiths Musik wiederfinden: das der Suite zugrundeliegende Ballett beschreibt die Verwerfungen auf dem Lebensweg von Franz von Assisi, aber auch dessen Wandlung. Das Orchester, das bündig vom Chor abgenommen hatte, begann in zunächst tragischer Tonalität, doch wandelte sich diese bald, hellte auf. Schon hier betörten Flöte (Kathrin Bäz), Piccolo (Friederike Herfurth-Bäz) und Oboe (Johannes Pfeiffer), doch weniger die Soli an sich, sondern wie Andrew Manze all dies fügte, wie er stufenweise (oder auch stufenlos) ein Tutti dynamisch wachsen ließ, die Blechbläser strahlkräftig über einem dichten Streicherteppich plazierte, konnte begeistern und für das Werk einnehmen. Von wegen »Alte Musik«! Im dritten Teil leuchtete der Blechbläserchor majestätisch durch den Saal – das ließ für Beethoven nur Gutes ahnen. Zunächst antwortete die Horngruppe auf die Kollegen, nahmen die Violinen den thematischen Faden auf, der sich noch einmal durch alle Instrumentengruppen wirkte – die Spannung hielt!

Auch nach der Pause. Es gab sicher nicht wenige im Publikum, welche die (fast) alljährlichen Aufführungen der »Neunten« zum Jahreswechsel regelmäßig miterleben. Doch wenn sie so aufregend präsentiert wird, kann auch die soundsovielte Wiederholung wie neu sein. Das heraufdämmern des Allegro non troppo (wie ein Prélude) zumindest klang vielversprechend, das Licht folgte sogleich. Flöte und Oboe sowie das Stakkato der Streicher setzten früh neue Spannungsmomente. Das sinfonische Band dehnte sich bis zum Finale des ersten Satzes, in dem die Streicher nun tremolierend und von den Pauken begleitet den ersten Gipfelpunkt erreichten. Das Molto vivace schien paradox – luftig und leicht, aber trotzdem von erregender Dichte, das anschließende Adagio nahm Andrew Manze mit fast kammermusikalischer Konzentration.

Für den Schlußsatz standen neben den vereinigten Chören Susanne Bernhard (Sopran), Stefanie Irányi (Alt) und Christof Fischesser (Baß) zur Verfügung. Tenor Ilker Arcayürek hatte recht kurzfristig übernommen, was man seinem Part anfangs noch anmerkte, als ihm vielleicht die Sicherheit, auf jeden Fall die Präsenz fehlte. Davon hatte der Sopran etwas zu viel, was Susanne Bernhard im Finale aber korrigierte. Christof Fischesser, vielen eher im Wagner-Fach bekannt, gestaltete sein »Oh Freunde, nicht diese Töne!« reichlich opernhaft, fand aber in der Dramaturgie letztlich mit den anderen Solisten gut zusammen.

Die (kompositorisch gewollten) Dissonanzen des Beginns formte Andrew Manze fast wie ein Chaos – jenes schöpferischen Chaos‘, aus dem etwas Neues entsteht. Die »Bausteine« dazu, instrumentale Brücken wie thematische Versatzstücke der zuvor erklungenen Sätze, führte er mit Genuß aus. Insofern wurde hier ein Entwicklungsschritt, wie im Text dargestellt, deutlich. Noch in den Generalpausen oder winzigen Fermaten machte Manze dies deutlich. Einfach beglückend!

10. November 2024, Wolfram Quellmalz

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