Am Anfang ist die Kantate

Konzertreihe im Marcolini-Palais ist wesentlicher Lehrinhalt der Musikhochschule

Vor über 30 Jahren begann die Kooperation zwischen dem Städtischen Klinikum Dresden-Friedrichstadt und der Dresdner Musikhochschule mit den ersten Konzerten im Marcolinischen Palais. Es ist ein historischer wie musikalischer Ort: 1813 bezog Napoleon im Haus Quartier, ab 1835 waren Mieter, darunter Richard Wagner, zu Hause. Achtzehnhundertfünfundvierzig wurde es Teil des hierher umgezogenen Stadtkrankenhauses.

Anfangs (1991) betreute Wolfgang Steude (damals Heinrich-Schütz-Archiv der Hochschule) die Konzertreihe im Marcolini-Palais, heute gestalten verschiedene externe Gäste und Hochschulklassen die Dienstagabende. Fester Bestandteil ist seit bald zwanzig Jahren die Reihe der Bach-Kantaten. Studenten der Klasse von Hans-Christoph Rademann führen die Werke nicht nur auf, sie müssen sie auch organisieren. Denn nur für die Dirigentenklasse sind sie als Teil des Lehrprogramms Pflicht, Sängerinnen und Sänger wie Instrumentalisten müssen erst (freiwillig) gewonnen werden. Das ist im einzelnen mitunter mühevoll, lohnt aber letztlich für alle Seiten: Bach-Kantaten sind ein Gradmesser, gerade für die Solisten, wollen doch – schon in einem Rezitativ – beste Verständlichkeit und Ausdruck hergestellt sein. Insofern ist die Reihe nicht zuletzt eine wertvolle Möglichkeit für Sänger, sich in der Praxis zu erproben.

Wohin das führen kann, erzählte Hans-Christoph Rademann am Dienstag zu Beginn: er ließ sich im vergangen Jahr vertreten, weil er mit der Gaechinger Cantorey den ersten Leipziger Kantatenjahrgang aufgeführt und eingespielt hat – manche der Solisten, wie Isabell Schicketanz, begannen einst im Marcolini-Palais. Gerade sind die Teile vier und fünf mit den Kantaten der letzten Sonntage nach Trinitatis bis zur Weihnachtszeit auf CD erschienen.

Für Paul Ehrmann, der seit einem Jahr zur Dirigierklasse gehört, war es bereits der dritte Kantatenabend, die junge Estin Kristina Pfeffer ist er seit kurzem an der Musikhochschule und kam erstmalig ins Marcolini-Palais. Beide standen sie vor dem Problem einer extrem kurzfristigen, krankheitsbedingten Absage – noch am Vortag hatte eine wichtige Solo-Oboe gefehlt, Nao Hatsumi rettete mit ihrem Einspringen sozusagen das Konzert, dabei hatte sie in beiden Kantaten höchst virtuose Soli auszuführen.

Schon »Allein zur dir, Herr Jesu Christ« (BWV 33) verlangte atemloses Spiel, wird hier doch das »zu dir« mit freudiger Eile vorangetrieben. Im Kern, hatte Kristina Pfeffer erklärt, findet sie in der Kantate die Themen Güte, Liebe und Vergebung wieder, woraus Hoffnung und Trost wachsen. Der Weg dahin beginnt jedoch verzagt, wie die Arie »Wie furchtsam wanken meine Schritte« mit Anna-Maria Tietze (Alt) wunderbar darstellte. Im Pizzicato konnte man die vorsichtigen Schritte des dennoch Vorwärtsgehenden oder den übermäßig lauten Herzschlag eines Furchtsamen erkennen.

Paul Ehrmann erklärte wie seine Kommilitonin vorab näheres zu Inhalt und Aufbau der von ihm präsentierten Kantate »Wer nur den lieben Gott läßt walten« (BWV 93). Schließlich hat Bach darin den Text des ursprünglichen Chorals von Georg Neumark verarbeitet, den ein unbekannter Textdichter jedoch angepaßt und in manchen Strophen mit ergänzenden Einwürfen versehen hat. Bei Bach stehen sich Originaltext und Ergänzung nicht in zwei Stimmen gegenüber, sondern werden im jeweiligen Rezitativ vom Baß (an diesem Abend Willy Wagner) bzw. Tenor (Kota Katsuyama) fortlaufend vorgetragen. Trotzdem arbeitete Paul Ehrmann mit seinen beiden Sängern gerade diese Passagen so fein heraus, daß die zuvor erläuterten Textunterschiede in Bachs Struktur hörbar wurden. Gesteigert wurde der Effekt noch, weil Violinen (mit Caspar Erler als Führung) und Viola die Choralmelodie zeilenweise einspielten und die Instrumentalisten »Blitz und Donner« im Tenor-Rezitativ ausdrucksvoll ausleuchteten. Neben den Chören gehörte das Duett »Er kennt die rechten Freudesstunden« (BWV 93, Irina Maria Antesberger / Sopran und Philipp Rauh / Altus) zu den Höhepunkten der beiden Kantaten.

20. November 2024, Wolfram Quellmalz

Noch mehr Kantaten:

Vision.Bach 4 und 5, Kantaten vom 15. bis 23.Sonntag nach Trinitatis bis zum 1. Weihnachtsfeiertag des 1.Leipziger Jahrgangs 1723, Gaechinger Cantorey, Hans-Christoph Rademann, unter anderem mit Isabel Schicketanz, Alex Potter, Patrick Grahl, Benedikt Kristjansson, Tobias Berndt, jeweils 2 CDs, erschienen bei Hänssler

Aktuelle Ausstellung im Marcolini-Palais (bis Ende des Jahres): »Kunst oder Medizin?«, Fotos, Zeichnungen und Röntgenbilder aus der Pathologisch-anatomischen Sammlung des Institutes für Pathologie »Georg Schmorl«

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