Collegium 1704 spielt Bach
Es gibt wohl kaum ein Werk, daß so stark mit einer bestimmten Zeit des Jahres verbunden ist und binnen weniger konzentrierter Wochen so oft aufgeführt wird, wie Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium (BWV 248). Trotzdem wird man nimmer müde, es zu erleben – die einen wählen den musikalischen Höhepunkt bewußt in der Weihnachtszeit, die anderen hören es sogar mehrfach, in verschiedenen Besetzungen. Gerade da liegen oft die Vorlieben, so daß ein frühes Weihnachtsoratorium, bereits am Beginn des Advent statt zu den Weihnachtsfeiertagen, unvermeidlich wird, wenn man bestimmte Künstler hören will.
So geschehen gestern in der Dresdner Annenkirche, als das Collegium 1704 wieder zu Gast war. Man könnte es ebenso ein »spätes« oder »verspätetes« Weihnachtsoratorium nennen, denn in der Pandemiezeit ging uns eine Aufführung verloren, so daß die letzte bereits übermäßig lange – 2018 war es – zurückliegt. Damals übrigens ließ sich Ensembleleiter Václav Luks schon einmal vertreten, von Peter Dijkstra. Diesmal hatte er Gregor Meyer verpflichtet, der als Leiter des GewandhausChores Leipzig eine dezidierte Expertise in Sachen Bach und Chöre nachweisen kann. Vor allem aber versteht er, auf herzerfrischende Weise Publikum, Sänger und Musiker zu erreichen, wie sich zeigen sollte. Kein unwichtiger Fakt – wenn ein Ensemble so stark von seinem eigentlichen Leiter geprägt ist, kann es gut möglich sein, daß Aufführungen mit Gastdirigenten mißlingen, zumal das Collegium 1704 solche ja auch selten einsetzt.
Die freudige Erwartung zeigte sich schon im bestens besuchten Gotteshaus. Gregor Meyer wandte sich herzlich an das Publikum, begrüßte es mit dem schelmischen Hinweis, die Musikbrücke Prag – Dresden sei wohl die stabilste der Umgebung (die Trümmer der Carolabrücke liegen immer noch in der Elbe), wünschte aber sich und allen Anwesenden, daß dieser Bach Frieden in die Herzen bringen möge. Das – so sein Auftrag, der die Herzlichkeit behielt und kein Jota agitatorisch oder politische Willensbekundung war – sollten wir alle mit nach draußen tragen in den nächsten Tagen, Monaten, Jahren …

Bach selbst hat den Text nach Lukas und Matthäus zusammengestellt, worin der Friede[n] mehrfach angesprochen wird: »Brich an, o schönes Morgenlicht, | Und laß den Himmel tagen! | Du Hirtenvolk, erschrecke nicht, | Weil dir die Engel sagen, | daß dieses schwache Knäbelein | Soll unser Trost und Freude sein, | Dazu den Satan zwingen | Und letztlich Frieden bringen« heißt es im Choral der zweiten Kantate (Nr. 12), wenig später folgt der Coro (Nr. 21): »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden | und den Menschen ein Wohlgefallen«.
Bachs Musik enthält nicht nur den Frieden, sie kann geradezu dafür sorgen, daß der Körper Endorphine ausschüttet. Wem wäre es bei diesem Eingangschor gestern anders ergangen? Wer derart angeregt, aufgeregt, entfacht war, der hörte ganz genau hin (selbst wenn er jedes Wort kannte).
Nicht nur jedes Wort, sondern auch jede Note kennt Eric Stoklossa, der die Rolle des Evangelisten schon mehrfach übernommen hat. Was ihn aber nicht davon abhielt, die Geschichte so zu erzählen, als wäre sie ganz neu, eben erst passiert. Neben einer großartigen Diktion verfügt der Tenor über einen Gestaltungsmut, welcher der Arie »Frohe Hirten, eilt, ach eilt« (im Duett mit der Flöte, 2. Kantate) die ganze freudige Erregung der Weihnachtsbotschaft einpflanzte. Daß Eric Stoklossa in den Rezitativen keine Vergleiche mit den Größten seiner Vorgänger mehr scheuen muß, ist längst bewußt. Doch diese leidenschaftliche Arie ließ noch andere hochwertige Vergleiche zu. Altistin Luciana Mancini erweckte zu Beginn noch den Eindruck leicht gedämpften Timbres, auch in der Verständlichkeit war sie nicht auf dem Niveau ihres Tenorkollegen. Im Ausdruck und der Gestaltung jedoch schon. Zudem sang sie sich freier und freier und nutzte die Sinnlichkeit ihrer Stimme immer mehr. Für die gute Gesamtstimmung in der Aufführungsbesetzung sprach ebenso, daß Gregor Meyer, als die Altistin sich nach der Arie »Schließe, mein Herze, dies selige Wunder« zu früh an ihren Platz zurückbegab (liegt die Schuld nicht eindeutig bei Bach, der hier – vollkommen gegen die Regel – nicht Arie auf Rezitativ, sondern Rezitativ auf Arie folgen ließ), weder abbrach noch hektisch Korrekturzeichen gab, sondern den Moment kurz ausdehnte (wozu Julie Braná den Flötenton stehenließ), bis es weiterging. Ein kurzer Moment des Glücks, der bewies, wie souverän Solistin, Dirigent und Orchester agierten.

Es ist eben nicht alles in Notenwerten festgeschrieben – das Zusammenwachsen in den Proben ist ebenso wesentlich wie das Bewahren von Herz (und Verstand) im Moment der Aufführung. So überzeugte das Collegium 1704 mit einem frischen Impuls und reichen Farben. Die Sinfonia der zweiten Kantate offenbarte einmal mehr italienische Momente bei Bach (Bach hat den italienischen Stil studiert – warum nur haben die Italiener Bach nicht die gleiche Beachtung geschenkt?), die Pauke sorgte vor allem in Eingangs- und Schlußchören für geradezu emphatische Ausmalungen.
Wobei sich hinsichtlich Farbe und Verve (wieder) der Kreis schloß, der beide Collegia umfaßt, denn der Chor des Collegium Vocale 1704 zeigte sich erneut von einer starken Seite, was nicht an der großen Besetzung lag, sondern den großartigen Stimmen – wenn man sich konzentrierte, konnte man einige der Sängerinnen und Sänger individuell heraushören, trotzdem blieb das Ensemble geschlossen. Sein größtes Plus liegt sicher (wie bei den Instrumentalisten) in der Lebendigkeit.
Die war nicht minder bei den Solisten zu finden. Céline Scheen hatte ihren ersten Auftritt wirkungsvoll als Engel von einer der Altaremporen und ließ ihren Sopran danach zwischen den anderen funkeln. Krešimir Stražanac spielte seine ohnehin geschmeidige, edle, wohltönende, bestens verständliche Stimme einmal mehr aus und versah sie mit einem Extra an Klang und dynamischem Volumen – schlank und fast lyrisch vermochte er ebenso, wie er pointiert oder betont auftreten konnte, ohne daß sein Stimmapparat zu poltern drohte.
Und doch … ist all dies nur eine Sammlung von Momenten oder Höhepunkten. Das vielleicht größte Plus lag darin, daß Gregor Meyer den geschlossenen Eindruck bewahrte und sich eine Flexibilität erhielt, die ihn nicht nur schnell (und entspannt) reagieren ließ, sondern auch gestalterische Vorzüge besaß. So legte Meyer viel Wert darauf, die Choräle nicht gleichmäßig und gleichtönend anzulegen, verweilte auf einzelnen Zeilen, verlangsamte oder steigerte die Dynamik, betonte mit einer gedehnten Fermate das Wort »Friede«. Noch im Basso continuo nahm sich Meyer solche Freiheiten, bis hin zur Begleitung des Evangelisten, die plötzlich noch schlichter, allein mit Laute (Daniel Seminara) ausfiel (»Und es waren Hirten in derselben Gegend«). »Höre der Herzen frohlockendes Preisen« – da waren nicht wenige Stimmen, die sich statt eines Konzertendes eine Pause und danach die anderen drei Kantaten gewünscht hätten. Vielleicht gibt es das ja in einer der nächsten Spielzeiten? Nur nicht wieder sechs Jahre warten bitte …
3. Dezember 2024, Wolfram Quellmalz