Kent Nagano kehrte ans Pult der Dresdner Philharmonie zurück
Das Konzertwochenende bei der Dresdner Philharmonie begann diesmal schon am Freitag. Kent Nagano kam mit einem neuen Werk nach Dresden sowie mit Johannes Brahms‘ erster Sinfonie. Daß der Konzertsaal am Freitag bei dieser Kombination nicht ausverkauft war wie an den letzten Wochenenden, überraschte ein wenig. Dabei war gerade die erste Programmhälfte spannend: Auf die Konzertouvertüre »Le corsaire« (Opus 21) von Hector Berlioz folgte ein Ausschnitt aus Pascal Dusapins im Entstehen begriffener »Antigone«. Auch der französische Komponist war ein Rückkehrer – nach einem erfreulich verlaufenen Erstkontakt 2021 (»Waves« mit Olivier Latry) hat Pascal Dusapin in dieser Spielzeit sogar die Komponistenresidenz inne. Und die Dresdner Philharmonie beteiligt sich gemeinsam mit der Philharmonie de Paris an seinem neuen »Opératorio« (worin sich Oper und Oratorium annähern sollen). Bevor »Antigone« im kommenden Jahr in Paris uraufgeführt wird, gab es am Wochenende mit einem Monolog daraus einen ersten Vorgeschmack – der machte neugierig.
Hector Berlioz »Le corsaire« mag – nicht erst im Vergleich mit der Symphonie fantastique oder »Benvenuto Cellini« – keines der bedeutendsten Werke des Komponisten sein. Doch gerade hinsichtlich seiner Farbigkeit und instrumentaler Melange ist es weit mehr als nur interessant oder daß man es nur als Gattungsbeitrag wahrnehmen würde. Zumal sich der Wandel des Bildes (egal, ob man nun Lord Byrons Verserzählung »Le corsaire« als Inspirationsquelle beständig vor sich hat oder nicht) nicht allein im Temperament niederschlägt, sondern in einer differenzierten Orchestrierung. Gerade diese sowie flexible Tempi sorgten für einen beweglichen Fluß. Naganos agogische Finesse trug ebenso zur Vitalität bei wie die erfrischenden Blech- oder die »Klangblüten« der Holzbläser. Ein wenig kitschig konnte einem der romantische Strahlenkranz erscheinen, mag sein. Vielleicht hob dies aber auch der Kontrast zu Dusapins Monolog heraus.
Insofern war es gut, daß Kent Nagano das neue Werk und den Monolog szenisch kurz ankündigte und einordnete: Antigone, die sich über ein Gebot Kreons hinwegsetz hat und ihren Bruder Polynikes bestatten wollte, wird verurteilt, lebendig ein einer Grabkammer eingemauert zu werden. Antigone nimmt das Urteil an, im Werk (Text nach der Übersetzung von Friedrich Hölderlin) folgt ihr Monolog.

Nicht »aus dem«, sondern quasi »ins« Werk gerissen war das Publikum, selbst wenn einige (»Antigone« gehöre schließlich zum Schulstoff, hatte Kent Nagano gemeint) eine grundsätzliche Orientierung hatten. Beeindruckend war, wie stark bzw. tief, tief, tief dieser Ausschnitt bereits berührte! Mit Mezzosopranistin Christel Loetzsch hatte sich eine ausdrucksstarke Darstellerin gefunden, die kein Risiko scheute, eine frappierende Balance in der Persönlichkeit herauszuarbeiten – die Antigone von Pascal Dusapin ist Intellekt, Moral und Emotion. Dabei brachte Christel Loetzsch Antigone sozusagen »von Null auf Hundert« und fand in ihr eine starke Frauenfigur. Freilich hat Antigone keine Machtposition, muß sich der Entscheidung beugen, doch resigniert sie nicht. Antigone reflektiert innerlich, auch wenn sie »des Vaterlands Bürger«, »Io! Mein Bruder« oder »Polynikes« anspricht.

Was dabei im Orchester passierte, war nicht minder verblüffend – das »letztes Licht«, das Antigone anspricht, als würden sich die Mauer um sie bereits schließen, wurde hörbar, ohne daß Pascal Dusapin dies mit Piani oder tiefen Tönen simpel illustriert hätte. Die Violen formten einen Klang, tragisch von Beginn, später nahm die Soloflöte den Gestus auf. Immer jedoch blieb die Stimme in der Szene bestimmend und noch gegenüber dem ganzen Orchester führend. Auf das Opératorio darf man zweifellos gespannt sein! Die Spannung von Johannes Brahms‘ erster Sinfonie dagegen ließ trotz einer exzellenten Leistung des Orchesters nach, auch wenn der dunkle Beginn einen bündigeren Anschluß an Dusapin erlaubt, als es beim Sprung von Berlioz zu Antigones Monolog der Fall gewesen war. Naganos Handschrift mit den kammermusikalischen Binnensätzen war jedoch interessant und verwies auf Brahms‘ Entwicklung bzw. auf die Nähe seiner den Sinfonien vorausgegangenen Serenaden. Schien das Un poco sostenuto noch frisch und pointiert, blieb die Sinfonie im ganzen allerdings zu gleichmäßig, »formal korrekt«. Da fehlte über die Spanne Brahms schlicht ein wenig Seele.
30. November 2024, Wolfram Quellmalz