Schuberts »Winterreise« im Dresdner Kulturpalast
Liedbearbeitungen sind heikel, brechen sie doch auf, was ein Komponist sorgsam verborgen hat, heben an, was bedeckt bleiben, zumindest nicht so vordergründig werden sollte. Eine Singstimme und die sie umspielenden Linien, filigranes Webgut feinster Art, geraten dann leicht aus der Bahn, schlimmstenfalls unter dem Deckmantel »zum besseren Verständnis«, wenn ein Holzbläser symbolisch die »innere Stimme« betont. Manche Orchesterliedbearbeitung der Werke Franz Schuberts erwies sich – auch im Dresdner Kulturpalast – bereits als eher ordinär denn originär.
Doch auf die Eingängigkeit von Bläsern hatten die Musiker der Dresdner Philharmonie verzichtet, überließen den Begleitsatz vier Streichern. Vier Streichern, ja, aber mitnichten eine klassische Streichquartettbesetzung, wie sie einst noch Peter Schreier für eine »Winterreise« gewählt hatte. Am frühen Sonntagabend traf ein Quartett mit zwei Violen auf den Tenor.

Und der, Bernhard Berchtold, stand ebenso hinter wie inmitten des Quartetts mit der Konzertmeisterin der Philharmonie, Heike Janicke (Violine), Andreas Kuhlmann und Beate Müller (Violen) sowie Ulf Prelle (Violoncello). Als Philharmonisches Streichtrio Dresden hatten sie sich die Klavierstimme selbst vorgenommen und für ihre Instrumente eingerichtet. Und siehe da – sie blieben ganz nah beim Sänger, statt sich in den Versästelunen von Kontrasten und Betonungen zu verlieren. Das führte zu einer fast schon synthetischen Auffassung, einem gemeinsamen Atmen und Aussingen.
Auch das gab es – gerade Violine und Violoncello führten die Gesangsstimme manchmal weiter, aber mit Bedacht, übernahmen nicht den Hauptteil. Sonst unterstrich die Begleitung, deutete sanft tremolierend an, zeichnete aber nie überdeutlich heraus. Sie trat – gegenüber der ursprünglichen Fassung mit Klavier – also eher zurück als hervor. Manchmal fehlte der »Winterreise« ein wenig die Ambivalenz, die Fallhöhe der Verzweiflung, die subtile Schärfe, wie im »Frühlingstraum«, der als mildes, fernes Erinnerungsbild erschien, ohne daß der Wanderer noch sehr betroffen war. Manches kurze Bild (»Die Krähe«) geriet dann noch flüchtiger.
Allerdings gelang es dem Quintett trotzdem, eine anhaltende Spannung aufzubauen, die nicht nachließ, weder in Momenten der Entspannung wie »Der Lindenbaum«, noch, als nach genau der Hälfte die Grenze der beiden Abteilungen erreicht wurde. Das, was man leicht überbetonen könnte, wurde dennoch eingeflochten. Wie der Wind, der in der »Wetterfahne« vor allem zwischen die Saiten der Violien fuhr. Unterschwelliges offenbarte sich dennoch – wie die Hoffnung, die kurz »Im Dorfe« aufflackert. »Auf dem Flusse« nahmen alle fünf, von frohgemuten Pizzicati getrieben, leichten Herzens Fahrt auf. »Der stürmische Morgen« brach im Vergleich ungewöhnlich kraftvoll los.
Diese »Winterreise« brauchte quasi eine Neuorientierung – welche Schatten und Bilder fügt man wo ein? Was anfangs kurz schwierig schien – schließlich kennt man den Text doch selbst auswendig – barg mehr und mehr Reiz. Denn es zeigte sich, daß Sing- und Streicherlinien genau aufeinander abgestimmt, daß sie ausgewogen waren und einen gemeinsamen Gestaltungsraum ausfüllten – viel mehr miteinander, als daß sie einander gegenüberstanden.
Dabei erwies sich Bernhard Berchtolds Tenorstimme als ungemein flexibel und vielgestaltig. Er war ein nüchterner Erzähler mit einem Hauch von Melancholie, dem man in wertvollen Momenten tief in die Seele blicken konnte, bevor er sich fast leidenschaftlich erinnerte und erkannte – ja, die Gefühle von damals sind immer noch da.
Vielleicht galt hier aber auch vieles der Harmonie? Denn harmonisch umschlossen die Streicher schon zu Beginn den Erzähler, in »Die Nebensonnen« legten sie geheimnisvolle Harmonie offen. Bernhard Berchtold flocht eine glasklare Diktion ein, blieb immer verständlich, doch wegen seiner Wandlungsfähigkeit wirkte dies kein bißchen statisch, sondern – im besten Sinne – bewegt. Da blieb die Frage des letzten Liedes, ob sich der Wanderer nun mit dem »Leiermann« vereinigen möge, ob sich ihre Wege nur kreuzen oder eins werden, offen.
3. Februar 2025, Wolfram Quellmalz