Mozarts Charme und Leonskajas Zauber

MDR-Sinfonieorchester am Sonntagmorgen

Eigentlich hätte es ein rein russisches Konzert mit Werken von Mussorgsky, Tschaikowsky und Prokofjew werden sollen. Doch irgendwann entschied sich die Pianistin, Tschaikowskys erstes Klavierkonzert gegen eines von Mozart auszutauschen. Geschmackssache letztlich, bewog es uns aber, nach dem Besuch eines Klavierabends am Sonnabend noch ein wenig im Gewandhaus zu Leipzig zu bleiben.

Und so wurde uns zur Matinée gestern ein kleines Schmuckstück offenbart: die Ouvertüre aus Modest Mussorgsky Oper »Chowanschtschina«. Ihr war nach Mussorgskys Tod zunächst kein glückliches Los beschieden. Die Zensur verhinderte eine Aufführung ebenso, wie der Versuch einer Vervollständigung bzw. Orchestrierung durch Nikolai Rimski-Korsakow glücklos blieb. Doch manchmal bleiben glücklose oder scheinbare verlorene Werke doch nicht vergessen. So nahm sich Dmitri Schostakowitsch später des Werkes an und gestaltete die Partitur wohl weit besser aus, als es Rimski-Korsakow gelungen war. So zumindest konnten die Besucher im Gewandhaus nachvollziehen, wo Dennis Russell Davies in seiner Begrüßung nebenbei darauf hinwies, daß auch das MDR-Sinfonieorchester zum 50. Todestag des Komponisten einen Schostakowitsch-Schwerpunkt habe.

Isaac Levitan »Вечерний звон« (»Abendläuten«, Ölfarbe auf Leinwand, 87 cm × 107.6 cm, 1892), Tretjakow-Galerie, Moskau, Bildquelle: Wikimedia commons

Dabei zeigte sich der Komponist in der Funktion als »Ausstatter« ebenso kompetent und individuell wie vielleicht Ravel im Falle von Mussorgskys »Bilder einer Ausstellung«. Der Tagesanbruch, der morgendliche Nebel, erst von einzelnen Rufen erwachender Vögel durchbrochen (Holzbläser), schließlich allmählich vom Sonnenlicht durchwärmt, wurde hier fast szenisch-bildhaft erfahrbar. Interessant nicht zuletzt, weil sich die Belebung um die Violoncellogruppe zu verdichten schien.

Nach der kurzen Einleitung betrat mit Elisabeth Leonskaja eine jener Pianistinnen die Bühne, die man getrost und ohne ein Attribut der Sonderbarkeit als Grande Dame bezeichnen darf. Nobel im Anschlag, würdevoll in der Erscheinung – das verhindert keineswegs ein jugendlich-frisches Spiel. Wolfgang Amadé Mozarts neuntes Klavierkonzert (»Jenamy«) erwies sich als ebenso erfindungsreich, wie es der Interpretin Platz für Virtuosität und Ausdruck bot. Oder beiden Interpreten, denn gerade die Wechselspiele zwischen Pianistin und Orchester sorgten für solch hohen Reiz – auf Elisabeth Leonskajas perlend beherztes Spiel antworteten die Streicher mit seidigem Glanz, die Hörner sorgten für Nachhall. Ruhig, fast meditativ folgte das Andantino, dessen Fluß von einem schlanken Puls angetrieben wurde. Die Kadenzen nahm die Pianistin teilweise erstaunlich »knackig« – das hatten wir schon vor Jahren (damals in Brahms-Sonaten mit Leonidas Kavakos) festgestellt, daß dieser zarten Grande Dame eine erstaunliche Ausdruckskraft innewohnt! Insofern überraschte die Vehemenz, mit der sie im letzten Satz die Tür zur Romantik aufstieß, kein bißchen. Wieder gelangen dabei pointierte Wechselspiele mit dem Orchester, wenn es etwa mit Pizzicati antwortete.

Und was läßt man darauf als Zugabe folgen? Noch ein wenig mehr Romantik? Mit einem Schuß Drama? Elisabeth Leonskaja kehrte zu einem Komponisten zurück, der in den letzten Jahren wohl an Bedeutung für sie gewonnen hat: Franz Schubert (Nr. 1 aus den Klavierstücken D 946).

Sergej Prokofjews sechste Sinfonie nach der Pause war für viele wohl (bisher) unerhört. Schwierig vielleicht weniger beim Anhören als schon bei der Herleitung und Erklärung. Prokofjew soll die Sinfonie als Antwort auf den Krieg geschrieben haben, er hätte ihr Optimismus eingepflanzt, aber auch die Verluste mitgegeben – solche Deutungen können zutreffen, erschweren zuweilen jedoch das Erschließen, von der Zensurgeschichte im Sowjetrußland einmal ganz abgesehen. Das MDR-Sinfonieorchester fand in den fröhlichen Bläserakkorden zu Beginn deutlich karikaturhafte Elemente, Dunkelheit und eine Art »Kampf der Elemente« (oder des Individuums, ähnlich wie bei Schostakowitsch) kennzeichneten den Verlauf. Solistisch blitzsauber (Flöte, Trompete) konnte dies bis zur Tuba farblich überzeugen, gerade weil es Ambivalenz offenbarte, statt Wohlklang zu verordnen. Die scharfen, dann samtigen Blechbläser, das Nachdunkeln im Orchesterpiano wiesen noch einmal die Pointiertheit vor, mit der Dennis Russell Davies eine thematische Balance wahrte.

10. Februar 2025, Wolfram Quellmalz

Elisabeth Leonskaja: Klavierwerke von Franz Schubert (Klaviersonate D 664, Drei Klavierstücke D 946, Zwei Scherzi D 593, Allegretto D 915 und Adagio D 612), Aufnahme von 2003, SACD neu erschienen bei MDG, sowie Franz Schubert, Gesamtaufnahme der Klaviersonaten, plus Wanderer-Fantasie D 760, 8 CDs, Aufnahme 2015, neu erschienen bei Warner

Hinterlasse einen Kommentar