Comic trifft Ravel

Premiere von »Das Kind und der Zauberspuk« an der Semperoper

Was verbinden Sie mit dem Namen Maurice Ravel? Den Boléro natürlich, seine Klavierkonzerte und eine Reihe kammermusikalischer Werke. Daß originale Aufnahmen von Ravel mit einem Reproduktionsklavier gemacht wurden und in großartiger Qualität erhalten sind, wissen Musikfreunde. Aber wer hätte in Ravels Œuvre eine Oper vermutet? Obwohl es genaugenommen keine Oper, sondern eine Fantaisie lyrique ist: »L’enfant et les sortilèges«, ist keine ganze Stunde lang und erzählt von den Aufwallungen kindlichen Ungestüms und Ungehorsams. Keine geringere als Colette, die sich in ihrem Werk vielfach mit der Adoleszenz auseinandergesetzt hat, schrieb das Stück, das mit der Musik von Maurice Ravel im März vor einhundert Jahren in Monte Carlo uraufgeführt wurde. Jetzt ist »Das Kind und der Zauberspuk« (deutsche Fassung) als Übernahmeproduktion von der Opéra national de Lyon an der Semperoper Dresden zu erleben.

DAS STÜCK

Das Kind sitzt mißmutig am Schreibtisch. Es muß Hausaufgaben machen, da ist die Mutter unerbittlich. Doch es will nicht, es möchte lieber spazierengehen. Das Kind schimpft und beginnt, mit Sachen zu werfen, zerbricht das gute Teeservice, beschädigt Möbel. Die Katze und das Eichhörnchen reißen aus …

Alles nur geträumt? Trifft das Kind (Nicole Chirka) ein Hirtenmädchen (Jasmin Delfs) und einen Hirtenknaben (Dominika Škrabalová)? Photo: Sächsische Staatsoper, © Sebastian Hoppe

Bald zeigen sich die Schäden des Tobsuchtsanfalls deutlich: das Zimmer ist verwüstet, Tiere wurden gequält, Insekten getötet. Zu allem hat sich das Eichhörnchen im Tumult verletzt – ein Umkehrpunkt der Geschichte, denn das Kind kommt zur Besinnung, wird mitfühlend, pflegt und verarztet das Eichhörnchen. Daß es mitfühlend geworden ist, Reue zeigt, öffnet den Ausweg. Nun kann es sich mit der Mutter wieder versöhnen.

Geht man nach Inhalt und Text, findet sich in manchem die Mode der 1920er Jahre. Insektensammlungen, damals für bürgerliche Kinder eine hochinteressante Beschäftigung, haben als Zeitvertreib an Ansehen eingebüßt, gelten an sich schon als Tierquälerei. Und gehen unsere Kinder heute noch »spazieren«? »Daddeln« sie nicht lieber? Aber das ist eigentlich egal, denn es geht ja eigentlich um das, was das Kind nicht will. Und um das »Austicken« – so anders sind unsere Zeiten dann doch nicht.

INSZENIERUNG UND AUFFÜHRUNG

Die Länge oder Kürze und die Genrebezeichnung Fantaisie lyrique statt Oper sollte nicht in die Irre führen. Zwar ist »Das Kind und der Zauberspuk« kein abendfüllendes Werk, aber eines für große Besetzung: neun Solisten, Chor und Orchester kommen daher auf die große Bühne der Semperoper – und die nächsten Vorstellungen sind bereits fast alle ausverkauft!

Virtualität und Realität vermengen sich: das Kind (Nicole Chirka) und ein alte Männchen (Martin-Jan Nijhof), Sinfoniechor Dresden, Photo: Sächsische Staatsoper, © Sebastian Hoppe

Die Sächsische Staatskapelle sitzt hinter einem halbdurchsichtigen Vorhang, dort agieren auch manche Komparsen, die vom Aufstellen der Requisiten bis zu Projektionen einiges zu tun haben, sowie der von Jan Hoffmann vorbereitete Sinfoniechor Dresden – Extrachor der Semperoper Dresden, dem im 110. Jahr seines Bestehens diese besondere Aufführung zugefallen ist. Acht der Solisten müssen ständig die Rolle wechseln, nur Nicole Chirka bleibt die ganze Zeit das Kind.

Für die schnellen Wechsel von Personen und Ort, aber auch, um den Tumult darzustellen, ohne wirklich etwas zu zerbrechen, hat sich das Inszenierungsteam (Konzept & Video: Grégoire Pont, Inszenierung: James Bonas, Bühne und Kostüme: Thibault Vancraenenbroeck, Licht: Christophe Chaupin, Videoeinrichtung: Xavier Boyer) ein geniales Konzept einfallen lassen, indem sie die Szenerie um die realen Personen vor allem durch Projektion über den Bühnenraum hinaus erstehen läßt. Das funktioniert erstaunlich genau bzw. synchron, sowohl den Ort, also die Position eines Solisten, als auch den Zeitpunkt betreffend. Auf diese Weise werden nicht nur Zimmer und Garten ausstaffiert, den Protagonisten wachsen Flügel oder sie werden in einen Käfig gesteckt, den man zwar sieht, der aber nur aus Licht besteht. Verblüffend, wenn man feststellt, daß fast alles nur Illusion ist, was man in der Ankündigung auf Bildern sah! Einziger Nachteil: Wenn sich zum Schluß alle beim Applaus verbeugen, haben es Eltern schwer, ihren Kindern zu erklären, wer was gespielt hat, denn die Solisten sind dann in ihrer grauen Kleidung kaum zu unterscheiden.

»Das Kind und der Zauberspuk« verzaubert musikalisch und visuell. Das Kind (Nicole Chirka), der Laubfrosch (Simeon Esper), das Eichhörnchen (Dominika Škrabalová), Photo: Sächsische Staatsoper, © Sebastian Hoppe

Doch das ist nebensächlich, denn die Atmosphäre des Stückes verzaubert. Dazu trägt neben den markanten Stimmen und den ausgelebten Rollen auch die Musik von Maurice Ravel bei, den man hier weder rein impressionistisch noch französisch erlebt, sondern eher experimentell und phantasievoll. Daß er der Pentatonik näher scheint, paßt zu Teetasse und Teekanne, die visuell belebt werden und auf englisch und in einem Pseudo-Asiatisch miteinander parlieren. Trotz großen Orchesters ist der Klang schlank – Ravel hat Wert auf Vielfalt gelegt, Dirigent Elias Grandy führt die Sächsische Staatskapelle äußert agil.

Natürlich dürfen bei Colette ein paar (projizierte) Katzen nicht fehlen. Sie zeigen ein vergleichbares Ungestüm wie das Kind – da fließt doch einmal Blut, wenn eine Kralle ritzt. Nicole Chirka durchlebt in fünfzig Minuten die Aufwallung und Beruhigung der Gefühle, aber auch das Aufblühen der Phantasie des Kindes – werden Möbel und Kaminfeuer wirklich lebendig oder »spukt« es nur im Kopf des Kindes?

Die turbulente Geschichte und die Übertexte sind allerdings ein wenig anspruchsvoll – für ganz kleine Opernanfänger ist das Stück wohl noch nichts, den Begleitpersonen dürfte es aber leicht fallen, das eine oder andere zu erklären. Insofern ist »Das Kind und der Zauberspuk« eine erfrischende Gelegenheit für ein gemeinsames Familienerlebnis und erste Besuche im großen Opernhaus.

17. Februar 2025, Wolfram Quellmalz

Maurice Ravel »Das Kind und der Zauberspuk«, Semperoper Dresden, wieder am 23. Februar sowie am 9. (zwei Vorstellungen) und am 19. März.

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