Auf der Suche nach der Balance

Gounods »Roméo et Juliette« läßt an der Semperoper viele Wünsche unberücksichtigt

Vor fünfzehn Jahren landete die Sächsische Staatsoper als eine der letzten Premieren in der Intendanz von Gerd Uecker mit »Faust / Margarethe« einen großen Erfolg. Keith Warner hatte damals Charles Gounods Goethe-Adaption spannend auf die Bühne gebracht. Würde das Haus dreieinhalb Intendanzen später mit »Roméo et Juliette« daran anknüpfen können?

Das Liebespaar schlechthin Juliette (Tuuli Takala) und Roméo (Kang Wang), Photo: Sächsische Staatsoper, © Klaus Gigga

Regisseurin Barbara Wysocka bleibt dem Publikum die erhoffte Spannung leider schuldig, und auch sängerisch war »Roméo et Juliette« zur Premiere am Sonnabend noch nicht auf der Höhe. Noch? Gerade hinsichtlich der Besetzung fehlte es gar nicht unbedingt an den Voraussetzungen, sondern an der noch nicht erreichten Balance. Die Inszenierung fällt dabei eher durch Einfallslosigkeit auf, erst ab dem dritten Bild gelang es, Leidenschaft zu vermitteln.

Die Häuser der Familien Capulet und Montaigu werden durch zwei Fassaden (Bühne: Barbara Hanicka) angedeutet. Mit drei Wänden will das Regieteam Grenzen, Durchgänge und Projektionsräume schaffen, doch die fahrigen Kulissen bieten kaum mehr als (wieder) grauen Einheitsbeton – sind das die Palazzi in Verona oder vielmehr irgendwelche Firmentempel italienischer Clans in Amerika (oder die Gebäude am Lincoln Square in New York)? Auch die Menschen laufen (wieder) in schwarzer Kleidung herum (Kostüme: Julia Kornacka) und rauchen – schon zu Beginn wirkt alles wie gewohnt und bekannt. Daß auf einem Familienfest der Capulets Photographen sind, vermutlich für Bilder einer Instagram-Story, macht es nicht pfiffiger.

Freches Spottlied: Stéphano (Valerie Eickhoff) heizt die Stimmung an, im Hintergrund lauscht Grégorio (Anton Beliaev), Photo: Sächsische Staatsoper, © Klaus Gigga

Der Umgang mit Projektionsflächen ist mit einer Ausnahme dürftig. Immer wieder werden Zitate aus Shakespeares originalem Text eingeblendet (»Where civil blood makes hands unclean« / »Wo Bürgerblut die Bürgerhand befleckt«, »Some shall be pardoned and some punished« / »Einige werden begnadigt und einige bestraft«), doch führt das kaum zu einer Vertiefung oder Vermittlung, sondern wirkt, als seien es Handlungskommentare eines Schulseminars.

Heimliche Trauung: Juliette (Tuuli Takala), Roméo (Kang Wang), Frère Laurent (Georg Zeppenfeld) und Zeugin Gertrude (Michal Doron), Photo: Sächsische Staatsoper, © Klaus Gigga

Das ewig schwarze Grau ist fade, trist. Die Konsequenz, Romeo und Julia an der Tristesse ihrer (unserer) Zeit sterben zu lassen, traut sich die Regie dann aber doch nicht zu (oder kann es nicht zeigen). Dazu fehlt es nicht zuletzt an Personenführung. Abläufe? Fehlanzeige! Der Sächsische Staatsopernchor (Einstudierung: Jan Hofmann) klingt toll, steht aber meist herum. Und wenn er sich bewegt, dann nur, um die Position zu ändern. Szenisch hat das keinen Wert, dabei wird anfangs doch ein Maskenball gefeiert. Aber selbst dort treten alle in Alltagskleidung auf, mehr als Sonnenbrillen gibt es nicht …

Es dauert, bis das Drama berührt. Fehlt den Sängern die Entfaltungsmöglichkeit? Wurde zu knapp geprobt? Tuuli Takala hat an der Semperoper in vielen Rollen, unter anderem als Sophie (Rosenkavalier) und Olympia (Les Contes d’Hoffmann) gezeigt, daß sie ebenso lyrisch singen kann wie sie Koloraturen beherrscht. Ihre Juliette klang zur Premiere aber fast schneidend scharf, ließ ein Legato vermissen, was die kleine Arietta »Je veux vivre« entzauberte. Erst in den Duettszenen mit Roméo wandelte sich dies in einen leidenschaftlich glaubwürdigen Ton – war sie noch nicht »drin« in ihrer Rolle?

Kang Wang als Roméo überzeugte zwar mit kämpferisch strahlendem und intonationssicherem Tenor, war darin aber zu dominant. Erwachende Liebe? Heimliche Zärtlichkeit? Der zweite Akt beginnt mit einem Nocturne, in das Kang Wang aber so dröhnend einfiel, als würbe Roméo noch inbrünstig um Juliette (sie sind sich jedoch längst heimlich geneigt). Er verscheucht wohl eher die Nachtigall und weckt sämtliche Capulets. (Ironischerweise läßt das Libretto Juliette später Roméo zur Vorsicht mahnen: »leiser, sprich leiser«.)

Erbittere Widersacher: Tybalt (Brian Michael Moore) und Mercutio (Danylo Matviienko), rechts: Juliettes versprochener Bräutigam Pâris (Gerrit Illenberger)

Der szenische Mangel der Inszenierung ist um so bedauerlicher, weil Gounods Musik so vielschichtig, psychologisch, ambivalent und märchenhaft ist und eine Basis für Verwebungen böte. Und weil Gounod immer wieder etwas einflicht, nicht nur das Nocturne, schon zu Beginn spiegelt er den Prolog des Chores (»Die unglücklichen Liebenden sollen mit dem Tod erkaufen das Ende ihrer Väter ewigen Haß«) mit einer Bach’schen Choralfuge.

Dirigent Robert Jindra behandelte die Partitur mit Finesse und brachte manche Perle zum Glänzen. Die Sächsische Staatskapelle bewies darin Stilsicherheit und daß sie in den französischen Farben ebenso zu Hause ist wie in italienischen oder der deutschen Romantik. Wenn szenische Dichte und Dramaturgie doch ansprachen, lag ein wesentlicher Anteil in der instrumentalen Musik.

Dabei konnten die Sänger durchaus mehr als Achtungszeichen setzen. Michal Doron hatte als Gertrude keine ausgeprägten Arien, rundete aber mit stimmlichem Wohlklang ab. Tybalt (Brian Michael Moore) und Mercutio (Danylo Matviienko) waren kontrastreiche Widersacher, Oleksandr Pushniaks Rolle als Vater Capulet beschränkte sich, allerdings auch stückbedingt, fast auf standhaft patriarchale Prägnanz.

Im Bild und szenisch zu statisch: Stéphano (Valerie Eickhoff), Benvolio (Jongwoo Hong), Mercutio (Danylo Matviienko), Roméo (Kang Wang), Le Duc de Vérone (Tilmann Rönnebeck), Capulet(Oleksandr Pushniak), Tybalt (Brian Michael Moore), Sächsischer Staatsopernchor, Photo: Sächsische Staatsoper, © Klaus Gigga

Für aufregende, ja glänzende Einzelleistungen sorgten Valerie Eickhoff in der Pagenrolle Stéphanos sowie Georg Zeppenfeld als Frère Laurent. Eickhoffs leider einziger Soloauftritt mit Stéphanos frechem Spottlied heizt die Stimmung zwischen den verfeindeten Familien an – mit einem Mal war die Spannung auf der Bühne greifbar. Georg Zeppenfeld konnte in seiner knappen Rolle zeigen, daß er mehr vermag, als nur den Edelklang seiner Stimme auch aufs Französische zu erweitern. Der Monolog Frère Laurent fokussierte die Spannung.

Projektionsräume blieben trotz gegenteiligen Ansatzes versagt, mit Ausnahme der Traumszene Juliettes, als sie ihr Narkotikum nimmt und in einen todesähnlichen Schlaf sinkt, in dem sich per Videosequenz die Gemordeten der Vergangenheit und ein Was-wäre-wenn der Zukunft mischen – die leider einzige psychologische Spiegelfläche. Dabei gäbe es viele mögliche Ansätze – ist Julia (»laß mich träumen und den Duft der Rose atmen, bevor sie welkt«) nur ein verliebter Teenager oder (als »Produkt« ihrer Familie) bereits einem narzißtischen Jugendwahn verfallen? Es bleibt Shakespeares Resümee: »For never was a story of more woe than this of Juliet and her Romeo« (Nie gab es eine traurigere Geschichte als die von Julia und ihrem Romeo).

4. Mai 2025, Wolfram Quellmalz

Charles Gounod »Roméo et Juliette«, Semperoper Dresden, mit Robert Jindra (Musikalische Leitung), Kang Wang (Roméo), Tuuli Takala (Juliette), Brian Michael Moore (Tybalt), Danylo Matviienko (Mercutio), Valerie Eickhoff (Stéphano), Georg Zeppenfeld (Frère Laurent), Michal Doron (Gertrude) und anderen, französischer Text mit deutschen Übertiteln, nächste Vorstellung: 9. Mai, weitere Termine im Mai und Juni sowie im Oktober und November

https://www.semperoper.de

Hinterlasse einen Kommentar